Full text: Dichtung des Mittelalters (Teil 1)

§ 5. Die Poesie unter dem Einflüsse der Geistlichkeit. 
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Zwar müd, doch frischen Geists saß jetzt beim Wein geeint 
Hagen, der dornige, mit seinem alten Freund. 
Nach Lärm und Kampfgetös, Schildklang und schweren Hieben 
Zum Becher dort die zwei viel Scherz und Kurzweil trieben. 
„Zukünftig", sprach der Franke, „magst du den Hirsch erjagen, 
O Freund, und von dem Fell dir Lederhandschuh tragen, 
Und so du dir mit Wolle ausstopfest deine Rechte, 
So meint doch mancher Mann, die Hand sei eine echte. 
O weh, auch mußt fortan du allem Brauch entgegen 
Um deine rechte Hüfte das breite Schlachtschwert legen, 
Und will Hildgunde einst dir in die Arme sinken, 
So mußt du sie verkehrt umarmen mit der Linken, 
Und alles, was du tust, muß schief und linkisch sein ..." 
Walthari ihm erwidert': „O Einaug', halte ein! 
Noch werd' ich manchen Hirsch als Linker niederstrecken, 
Doch dir wird nimmermehr des Ebers Braten schmecken. 
Schon seh' ich queren Auges dich mit den Dienern schelten 
Und tapfrer Helden Gruß mit scheelem Blick entgelten. 
Doch alter Treu gedenkend, schöpf' ich dir guten Rat: 
Bist du der Heimat erst und deinem Herd genaht, 
Dann laß von Mehl und Milch den Kindleinbrei dir kochen, 
Der schmeckt zahnlosem Mann und stärkt ihm seine Knochen." 
So ward der alte Treubund erneut mit Glimpf und Scherz. 
Dann trugen sie den König, dem schuf die Wunde Schmerz. 
Und hoben sänftlich ihn aufs Roß und ritten aus; 
Nach Worms die Franken zogen, Walthari ritt nach Hans. 
Da ward mit hohen Ehren begrüßt der junge Held, 
Und bald ward auch Hildgunde dem Treuen anvermählt. 
Nach seines Vaters Tod tät er der Herrschaft pflegen 
Und führte dreißig Jahre sein Volk mit Glück und Segen. (Scheffel.) 
Wie im Hildebrandsliede, so dreht sich auch im Walthariliede „das 
Interesse darum, daß zwei sich nahestehende Helden den Kamps nicht 
vermeiden können. Aber die Entzweiung wird nicht durch innere Gründe 
herbeigeführt, sondern durch die Habsucht des Königs Günther, welcher 
gewissermaßen die Rolle des Intriganten spielt. Er stört die Bundes- 
freundschaft der beiden unbesiegbaren Kämpfer; er ist das böse Prinzip 
und wird demgemäß vom Dichter schlecht behandelt". 
Neben den Hauptpersonen, welche mit Ausnahme von Günther 
als echt germanische Helden erscheinen, welche auch in Todesnot sich 
nicht beugen und der heftigsten Schmerzen ihrer Wunden spotten, sind 
auch die Nebenpersonen bei großer Mannigfaltigkeit in treff¬
	        
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