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sein, als Wein und Braten haben und mich wie ein kleines Kind
von andern umhcrführen lassen. Gott behüte ihn!" — Mit diesen
Worten stand er auf und ging weg. „Hast Recht!" rief ihm der
Reiche nach. „Könntest du mir deine gesunden Schenkel geben, du
solltest meinen Wagen, meine Rappen, mein Geld, kurz alles dafür
haben! Ein gesunder armer Mann ist glücklicher, als ein reicher
Krüppel."
120. Die menschliche Seele.
Der Körper des Menschen ist von einem Wesen belebt, welches wir
nicht mit den Sinnen wahrnehmen, sondern bloß aus seinen Wirkun¬
gen erkennen können. Wir nennen es die Seele des Menschen. Die
h. Schrift erzählt: Gott der Herr machte den Menschen ans einem Er-
denkloö und blies ihm einen lebendigen Odem in seine Nase. Und also
ward der Mensch eine lebendige Seele. Man kann zwar auch dem Thiere
eine Seele nicht absprechen; aber bei der näheren Betrachtung der mensch¬
lichen Seele ergiebr sich gar bald, daß die Thierseele tief unter der Men¬
schenseele steht. — Alle innern Thätigkeiten der menschlichen Seele, so
mannigfach diese auch sind, lassen sich auf drei zurückführen, welche wir
mit den Namen Vorstellen oder Erkennen, Fühlen oder Empfinden, Be-
gebren oder Wollen belegen. Wir bemerken daher an der menschlichen
Seele drei Hauptkräfte oder Hauptvermügen: das Vorstellungs- oder
Erkenntnißvermügen, das Empfindungs- oder Gefühlsvermögen lind das
BegehrungS- oder Willensoermögen.
121. Das Vorstellungs- oder Erkenntnißvermögen.
Wer eine Vorstellung ovn sich selbst, von seinem Zustande und von
den Eindrücken hat, welche auf ihn gemacht werden, der hat Bewußt¬
sein. Wir Menschen wissen, daß wir selbst da sind, n»d daß wir es
sind, die sich etwas vorstellen; wir haben daher Bewußtsein. Wir-kön»
nen auch die Vorstellungen, welche wir durch die Sinne oder durch den
Verstand aufgefaßt haben, behalten, in uns aufbewahren und uns der¬
selben wieder bewußt werden, und dieses Vermögen nennen wir Ge¬
dächtniß. Wir wissen heute noch, tvaS wir gestern gehört haben; ja
manches, z. B. grrt auswendig gelernte Lieder, behält man lebenslang.
Ebenso können wir uns die Bilder der Gegenstände ganz so wieder vor¬
führen, wie wir sie einst mit den Sinnen angeschaut haben, z. B. eine
FeuerSbrunst, und diese Kraft der Seele heißt die Einbildungskraft.
— Der Mensch bleibt aber nicht bloß bei solchen Vorstellungen stehen,
die er durch die Sinne erhalten bat, sondern er bildet durch innere gei¬
stige Thätigkeit daraus höhere und allgemeinere Vorstellungen, und diese
Thätigkeit nennen wir Denken. Daher wird das höhere Erkenntniß-
vermögen auch Denkvermögen genannt. Den ken heißt aber Begriffe,
Urtheile und Schlüsse bilden. (Fassen wir z. B. die Vorstellllngen:
Mauern, Dach, Fenster, Thüren rc. zusammen, so entsteht der Begriff:
Haus. Sagen nur von einem Gegenstände irgend etwas aus, z. B. der
Löwe ist ein Raubthier, der Nordwind ist kalt, die Sonne scheint, so ur-
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