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oder einbrechen und in dem reißenden Strom seinen Tod
finden.
Einst machten einige Reisende den Weg über die Al-
ven nach Italien und nahmen -sich einen 'Schweizer aus
der Gegend zum Wegweiser mit, der sie sicher über die
hohen Schnee- und Eisberge hinführte. Als er einmal
stille stand, wie um auszuruhen, sahen sie unvermuther
Thränen in seinen Augen. Sie fragten ihn nach der Ur¬
iache , und da zeigte es sich, daß cs Thränen eines gerühr¬
ten und dankbaren Herzens waren.
"Gottvergessen wäre ich," — sprach der Schweizer,
"wenn ich jemals vor dieser Stelle vorbeigehen könnte,
ohne mich dankbar an seine, mir hier erwiesene mächtige
Hülfe zu erinnern. Hier, liebe Herren, hier auf diesem
Berge, seht ihr dort in der Ferne jenen grauen Strich
auf dem Eise? Es ist ein Graben, einige Klaftern tief,
worin das Wasser stromweise unter der Schneedecke hin
schießt. Ihr denkt wohl, derjenige möchte ohne Rettung
verloren sein, dem der betrügliche Schein unter den Füßen
bricht und ihn in diesen fürchterlichen Schlund stürzt.
Nun, hier auf diesem Berge und in diesem Graben
sollte ich vor einigen Jahren mein Grab finden, wenn mich
nicht Gottes mächtiger Arne beinah durch ein Wunder
wieder aus demselben herausgezogen hätte.
Zwei Gefährten und ich jagten auf diesen Bergen den
Gemsen nach. Der Berg war mit frischem Schnee über¬
deckt. Wir spürten eine Gemse ; als wir aber der Spur
zu hitzig nachfolgten, sank der lockere Schnee auf einmal
unter meinen Füßen ein. Schon war ich tief in den Eis¬
schlund gesunken, als ich, noch meiner Sinne mächtig, die
Arme und die Schenkel im Niedersinken so weit als mög¬
lich ausbreitete und mich dadurch au den beiden Eiswän¬
den festhielt, so daß ich noch über dem Wasser schwebte.
Meine Gefährten hatten mich kaum aus dem Gesichte
verloren, als sie mir angstvoll zuriefen; und da sie hörten,
daß ich noch lebte, versprachen sie mir alles zu meiner
Rettung zu thun, was ihnen möglich wäre. Voll Verlan¬
gen, mir zu helfen, liefen nun die Lieben fast jo schnell,
als«die Gemse, eine Meile weit bis zu der nächsten Hütte,
wahrend ich zwischen Furcht und Hoffnung, auf meine
ausgebreiteten Arme und Schenkel an den Eiswänden