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Und der Knabe ging zu jagen,
Und es treibt und reißt ihn fort,
Rastlos fort mit blindem Wagen
An des Berges finstern Ort;
Vor ihm her mit Blitzesschnelle
Flieht die zitternde Gazelle*).
Auf der Felsen nackte Rippen
Klettert sie mit leichtem Schwung;
Durch den Riß zerborstner Klippen
Trägt sie der gewagte Sprung.
Aber hinter ihr verwegen
Folgt er mit dem Todesbogen.
Jetzo auf dem höchsten Zinken
Hängt sie, auf dem höchsten Grat,
Wo die Felsen jäh versinken,
Und verschwunden ist der Pfad.
Unter sich die steile Höhe,
Hinter sich des Feindes Nähe.
Mit des Jammers stummen Blicken
Fleht sie zu dem harten Mann,
Fleht umsonst; denn loszudrücken
Legt er schon den Bogen an.
Plötzlich aus der Felsenspalte
Tritt der Geist, der Bergesalte.
Und mit seinen Götterhänden
Schützt er das gequälte Thier.
„Mußt du Tod und Jammer senden,"
Ruft er, „bis herauf zu mir?
Raum für Alle hat die Erde,
Was verfolgst du meine Herde?" Schiller.
11. Die Gemsen.
Die Gemsen bewohnen die höchsten Alpen, besonders in der Nähe der
Gletscher und gedeihen nur in reiner Bergluft. Diejenigen, welche die höchsten
Gegenden der Alpen bewohnen, nennt man Gratthiere, und diese sind ge¬
wöhnlich kleiner und schwächer, als die sogenannten Waldthiere, welche
sich in niedrigen Regionen aufhalten. Die Gemse ist ein hübsches, schlankes
Thier, hat kurze, graue und dunkelbraune Haare, zwei kleine, oben, wie ein
Haken, gekrümmte Hörner an der Stirn, fast grade zwischen den Augen, wird
an 20 Jahre alt und nährt sich im Sommer von dem zartesten Alpengrase,
welches sie auch im Winter unter dem Schnee hervorscharrt. Findet sie im
Winter kein Gras unter dem Schnee, so geht sie an abhängige Oerter, wo sie
immer einige, wenn gleich kümmerliche Nahrung an Moos und Flechten findet.
Die Gemsen gehen vor Sonnenaufgang auf die Weide und nach Sonnen¬
untergang bis in die Nacht; den Tag über liegen sie gewöhnlich an schattigen
Orten, vorzüglich gern in der Nähe des Schnee's. Sie leben in Familien oder
Rudeln beisammen, und eine alte Gemse ist immer Anführerin einer solchen
Familie. Sie führt die Gesellschaft auf die Weide, hält sie in Ordnung, wacht
*) Tie Gazelle, ein dem Rehe ähnliches Thier, welches in Asien und
Afrika lebt. Der Dichter meint aber hier nicht dieses Thier, sondern eine Ver¬
wandte desselben, die Gemse.