Full text: Vollständiges Lehr- und Lesebuch für die oberen Klassen katholischer Volksschulen

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die Zeit käme, daß sie sich in Fliegen verwandeln sollten. — Auf die 
Frage: Was sie heute in den Lehrstunden gelernt hätten, wußten sie wohl 
Zehnerlei zu antworten. — Als nun hierauf der Vater weiter fragte, ob 
sie heute irgend etwas gedacht oder gethan hätten, was sic jetzt bereueten? 
antwortete Karl nach einigem Nachdenken: „Ich sah heute den Pfirsichbaum 
unseres Nachbars, der so viele schöne große Pfirsische trägt. 'Da dachte 
ich: ich wollte, daß der Baum unser wäre! Und das war doch nicht recht, 
weil man nicht begehren muß, was einem Anderen gehört." Henriette 
sagte: „Zch hatte heute an meiner Näherei etwas nicht recht gemacht; da 
zeigte mir die Mutter, daß das nichts tauge, und da machte ich ein 
verdrießliches Gesicht. Das war doch auch gar nicht hübsch von mir!" 
„Nein, das war cs nicht, antwortete der Vater, und du mußt dich sorg¬ 
fältig hüten, daß dir das nicht noch einmal widerfährt. Wenn man Lust 
hat, vollkomrnen zu werden, so niuß man jede Zurechtweisung gern und 
mit Dank annehmen. Nun, fügte er hinzu, was habet ihr denn gedacht 
oder gethan, was euch jetzt noch Freude macht?" Aber die Kinder schlugen 
erröthend die Augen nieder und eiwiedcrten: „O lieber Vater, das können 
wir doch unmöglich sagen! Das wäre ja, als wenn wir uns selbst loben 
wollten." „Nicht doch, ihr Lieben, antwortete der Vater. Wenn ihr mir 
etwas sagt, so ist das eben so, als wenn ihr es nur dächtet, oder zu euch 
selbst sagtet. Nun darf man ja gar wohl bei sich selbst denken: dieß oder 
jenes habe ich heute recht gemacht. Also dürfet ihr das in meiner Gegen¬ 
wart auch gar wohl sagen. Vom Loben soll dabei nicht die Rede sein, 
ihr sollt cs nur deßwegen sagen, damit ich mit euch mich freuen möge, daß 
ihr eure Pflicht gethan habet. Nun?" „Nun, sagte Karl, ich habe heute 
alle meine Sachen in Ordnung gebracht, und mir vorgenommen, sic nie 
wieder in Unordnung kommen zu lassen." „Das ist gut, antwortete der 
Vater; und du, Henriette?" Henriette antwortete: „Und ich habe mir 
heute vorgenommen, nie wieder ein verdrießliches Gesicht zu machen, wenn 
man mir sagt, daß ich etwas nicht recht gemacht habe." „Auch recht gut, 
sagte der Vater; und Gott helfe euch, daß ihr das Beide immer in Er¬ 
füllung bringen möget! Nun, fügte er hinzu, was habt ihr denn heute an 
andern Menschen Gutes bemerkt, was ihr nachzuahmen begehrt?" „Zch, 
antwortete Henriette, habe beute von einer armen Taglöhnerfrau etwas 
gehört, was mir sehr gefallen hat." „Und was denn?" fragte der Vater. 
„Die arme W***, fuhr Henriette fort, die uns heute unsern Flachs aus¬ 
ziehen half, wurde gefragt, was die andere Frau, die mit ihr in einem 
Hause wohnt, denn immer machte? Ob sic etwa zu Hause spänne? — 
Nein, antwortete sie. Ob sie denn stricke? Nein, sagte sic wieder. Ob sie 
denn gar nichts thäte? O, sagte hierauf die gute Frau, darum müsset ihr 
mich nicht fragen. Ei, warum denn nicht? fragte unsere Anne. Deswegen, 
sagte sie, weil ich über andere Leute nicht reden mag; ich bekümmere mich 
nur um mich selbst. War das nicht gut von ihr gesagt, Vater?" „Recht 
sehr gut, antwortete der Vater, denn wenn man von anderen Leuten nichts 
Gutes zu sagen weiß, so ist es am besten, daß man gar nichts von ihnen 
sagt. Dafür soll die W*** auch immer zuerst gerufen werden, so oft es 
wieder etwas bei uns zu verdienen gibt. Erinnere mich daran. — Und 
du, Karl?" „O, ich habe auch etwas recht Schönes bemerkt?" „Und was 
denn?" fragte der Varcr. „Unsere liebe Mutter ließ heute den Arbeits- 
leutcn, die an unserm Graben arbeiteten, sagen, wenn sic Feierabend ge¬ 
macht härten, so möchten sic noch auf ein halbes Stündchen in den Garten 
kommen, um noch ein Paar Beete umzugraben." „Nun, sic kamen doch?" 
„O ja; und da waren sie so fleißig darüber her, daß jeder von ihnen noch 
drei große Beete umgrub." „Das war brav." „O das ist noch nicht 
alles! Da sie jetzt fertig waren, wollte die Mutter jedem ein Trinkgeld
	        
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