Full text: Lesebuch in Lebensbildern für Schulen (3)

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Tisches, noch des Stuhles; die Kleider am Leibe beengten und drück¬ 
ten es überall; in die Flamme griff es furchtlos; gekochte Speisen 
waren ihm ein Gräuel; das Liebste waren ihm Obst, Wurzeln und 
junge Bögel, Hasen oder Fische. Mit einer bewundernswürdigen Ge¬ 
schicklichkeit wußte es diese zu fangen. Seine Schnelligkeit im Laufen 
war so groß, daß es den schnellsten Hund einholte; auf die höchsten 
Bäume kletterte es mit der Leichtigkeit einer Katze, oder eines Eich¬ 
horns; unter das Wasser tauchte es, um sich Fische zu fangen und 
blieb oft so lange unter der Oberfläche des Wasserspiegels, daß Allen 
angst und bange wurde, es käme nie wieder zum Vorschein. Von 
Gott, seinem Schöpfer, hatte es noch keine Ahnung; von Anstand 
und Sitte wußte es Nichts; das Mein und Dein unterschied es nicht; 
was ihm gefiel, das nahm es und war nicht wenig erstaunt, wenn 
man ihm das verwehrte; die Nähe der Menschen drückte es überhaupt, 
und oft versank es in tiefe Traurigkeit, weiln die Sehnsucht nach 
seinem Waldleben es wieder beschlich. Kurz, es unterschied sich in 
Nichts, als in seiner Gestalt, von dem Thiere; Sprache, Vernunft, 
feinere Gefühle, edlere Geschicklichkeit und nützliche Thätigkeit —- Alles, 
was den Menschen auszeichnet, schien ihm fremd zu sein. Es dient 
zum Beweis, wie der Mensch, wenn er nicht im Umgang mit 
Seinesgeichen aufwächst, dem Thiere gleich bleibt, und 
wie zuerst dem Trieb zur Geselligkeit der Mensch es ver¬ 
dankt, wenn er über das Thier sich erhebt, wenn die höheren 
Anlagen, die ihm der gütige Schöpfer eingepflanzt hat, und durch die 
er Gott selbst erkennen\ ihm in Demuth ilnd Liebe sich nähern kann, 
wenn Sprache, Vernunft, Gefühl und ein edler Wille in ihm zur 
Entwickelung kommen. 
H a u p t. 
124. M u 1 t e r 11 e u e. 
Wißt Ihr, was ein Mutterherz vermag? Hörsis mit) dann sehet 
zu, ob Jhisis vergelteil sönnt. 
Kaiser Napoleon heirathete die Tochter deö österreichischen Kaisers, 
Maria Louise. Da gab es große Festlichkeiten in Paris. Der öster¬ 
reichische Gesandte, Fürst Schwarzenberg gab einen Ball von uner¬ 
hörter Pracht in einem besonders dazu errichteten Haus. Auch seine 
Schwägerin Pantine wohnte mit ihren zwei blühenden Töchtern dem¬ 
selben bei. Die Flamme eines Wachslichtes erreichte den Vorhang; 
lichterloh brannte augenblicklich der mit Nesseltuch und andern leichten 
Stoffen reich verzierte Saal. Der Kronleuchter stürzt, die Decke kracht 
zu Boden und versperrt den Durchgang. Das Jammergeschrei steigerte 
das allgemeine Entsetzen. Die Fürstin Pauline,war unter den Letzten 
die dem voll Rauch nnb Flammen umspielten Ausgang sich zudräng- 
ten. Da kracht es neben ibr, und ihre eine Tochter stürzt über breu¬ 
llende Trümmer an ihrer Seite hinunter. Sie selbst wird von dem 
Gewühle, wie bewußtlos, mit fortgerissen. Draußen angelangt, forscht 
sie nach ihrem Kiilde. Niemaüd hat es gesehen. Mit herzzerreißendem 
Jammergeschrei fliegt sie durch den Haufen, mit ihrer letzten Kraft
	        
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