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Folgt die Jungfrau dieser Rede, daun weinen die Engel zur Rech¬
ten eine Thräne des Bedauerns über die verlorne Schwester. Aber
wenn sie der Lockung nicht achtend, sich zu ihnen wendet, dann empfan¬
gen sie mit freundlichem Gruße die neue Freundin und reden also zu
ihr: Nicht die Welt mit ihren Freuden und Genüssen, nicht der Tum¬
melplatz des Lasters und der Verkehrtheit, nein, der enge Bezirk des
Hauses, der stille Familienkreis ist die Stätte, wo ächte, weibliche
Tugend sich entfaltet, wo die Geister der elterlichen, ehelichen und
kindlichen Liebe wohnen. Dort führen wir Dich hin; dort zeigen wir
Dir die Quelle reiner, nie getrübter Freuden. Dein höchster Lohn,
wenn Du uns folgst und treu bleibst, ist das Gefühl, daß Du uns
gefolgt und treu geblieben bist. Aber dieses Gefühl wiegt alle Schätze
und Güter dieser Welt auf. Es macht Dich ruhig in den Stürmen
des Lebens und würzt bei der bittersten Armuth Deine dürftige Mahl¬
zeit. Es schafft Deiner Seele Friede und Heiterkeit und stilles'Genüge;
es macht Dich angenehm vor Gott und Menschen. — Bleibe uns treu,
und wir sind bei Dir auf allen Pfaden des Lebens, im Hause Deiner
Eltern, an Deinem eignen Herde, im Kreise der Deinigen. Bleib'
uns treu, und wir versammeln liebende Hände um Dich, die Dir
Dein Kopfkissen zurecht legen, wenn Du krank bist, Dir die gebroche¬
nen Augen schließen und weinend Dein erkaltetes Herz, in dem Un¬
schuld, Einfalt und Demuth wohnten, in den mütterlichen Schooß der
Erde legen. Bleib' uns treu, und wir erhalten Dein Andenken in den
Herzen Derer, die Du liebtest, die Dich liebten; wir führen sie oft zu
Deinem stillen Grabe, es mit Rosen zu bestreuen und segnend Deiner
zu gedenken in den Gefilden des Friedens.
131. Regeln der Lebensklugheit eines älteren Bruders für
einen jüngeren, der als Handwerksgeselle auf die
Wanderschaft gehen will.
Ich bin älter, als Du; auch ich bin gewandert und habe die
Welt gesehen; ich kenne die Gefahren, in die ein junger Mensch, der
bisher' bloß das elterliche Hans kannte und liebevoll geleitet wurde,
so leicht geräth, wenn er nun ohne Freund, Führer und Rathgeber
ist. Du hast mir bisher Vertrauen geschenkt; nimm freundlich auf,
was ich in den letzten Tagen für Dich niedergeschrieben habe:
Verliere den Zweck Deiner Wanderschaft nie aus dem
Auge. Der Hauptzweck derselben ist, Dich in dem zu vervollkomm¬
nen, was Dich einst nähren und Dir ein angenehmes Leben sichern
soll. Zu diesem Ende suche die Orte auf, wo Du für Dein Fach
am meisten lernen und am meisten Neues sehen kannst.
Weile nicht zu lange an einem und demselben Orte. Warum
das nicht?
Erwirb Dir durch Treue, Fleiß und gesittete Aufführung das
Vertrauen und die Liebe Deines Meisters. — Er wird dann weniger
geheimnißvoll in seiner Kunst sein, Dich wie ein Glied seiner Familie
JL