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III. Geschichtsbilder.
Bräucheverlangte, und jenenheiligenGeist
nicht kannte, der in alle Wahrheit leitet.
Wenn es also gewiß ist, daß die
Deutschen nach Roms Falle so hoch stan¬
den, wie kein anderes Volk; und wenn
es nicht minder gewiß ist, daß die all¬
gemeine Geschichte den Höhen der Bildung
folgen darf, so leidet es keinen Zweifel:
deutsches Leben und deutsche Art ist
der nächste Gegenstand der Geschichte und
in ihm ist das Fortschreiten der Mensch¬
heit zu suchen. So lange Rom herrscht,
ist das Alterthum; das Mittelalter
ist, wo deutsches Leben und deutsche
Art hervortritt oder nachgewiesen
werden kann.
In allen Ländern und bei allen
Völkern Europas ist deutsche Bildung
unverkennbar, und wiederum haben alle
Völker in allen Ländern Europas auf
die Entwickelung deutscher Bildung, sei
es im eigentlichen Deutschland, sei es
in andern Ländern, manchfaltigen Ein¬
fluß gehabt. Von dem Augenblicke an,
da die Deutschen in die Geschichte ein¬
traten, bis auf diesen Tag ist die Ent¬
wickelung ihres Lebens, zwar nicht im¬
mer mit gleicher Raschheit, aber unun¬
terbrechen fortgegangen, und was ihnen
zu erreichen bestimmt sein mag, kann
Keiner voraussagen.
94. Das alte Germanien und seine Bewohner.
I.
Als die Römer den Rhein über¬
schritten und auf beschwerlichen Märschen
durch Sümpfe und Wälder manches Un¬
gemach erduldet hatten, erregte es ihre
Verwunderung, daß unter einem so har¬
ten Himmel Menschen zu leben ver¬
möchten, und daß dieselben einen so
wenig ergiebigen Boden gegen ein ge¬
bildetes Volk zu vertheidigen suchten.
Das schien nur möglich, wenn diese
Menschen mit diesem Theile der Erde
zusammengewachsen und hier von jeher
heimisch gewesen waren. „Wer würde
Asien oder Afrika oder gar Italien ver¬
lassen," rufITacitus aus, „um Germanien
aufzusuchen, wenn es nicht das Vater¬
land wäre?" Wie hätten aber die ger¬
manischen Völker diesen Boden nicht
behaupten sollen, mit dessen Verlust sie
Freiheit und Unabhängigkeit, Art und
Sitte der Väter, ihre Sprache, ihren
Glauben verlieren mußten?
Der Römer freilich schauderte, wenn
er mit dem Gedanken an den wolken¬
losen Himmel Italiens, wo der Früh¬
ling mit dem milden Herbste wechselt,
ein Land betrat, wo kein Rebengelände
den Hügel bekränzte und kein Oelbaum
grünte; wo kein Weizenfeld und keine
Südfrucht gedieh; wo unter dem Druck
der eisigen Luft alle Lebenskraft zu er¬
starren schien. Entsetzliches Land, dessen
Ströme, vom Regen geschwellt, ver¬
heerend überfließen, oder kalt und träge
dahin schleichen; wo Fluß und See sich
mit einer harten Eisrinde bedecken, so
daß, wer Wasser bedarf, nicht mit dem
Eimer, sondern mit der Axt bewaffnet
ausgeht, und es in schwerfälligen Klum¬
pen, wie Holz nach Hause trägt! Wenige
Wochen nur zählt der Sommer, und
auch dann fehlt es an heftigen Regen¬
güssen nicht; frühzeitig bricht der Herbst
mit Stürmen und Fluthen herein, und
schon zur Zeit der Tag- und Nacht¬
gleiche sind Gebirge und Ebenen von
Schnee bedeckt. Wehe dem Wanderer,
den diese Stürme in der Tiefe der
Wälder treffen!
Zu Cäsars Zeiten hatte noch Nie¬
mand jenes furchtbare Waldgebirge er¬
forscht, welches unfern der Alpen be¬
gann, auf dem linken Ufer der Donau
sich nach Osten zog und dann in die
unabsehbaren Fernen des Nordens ver¬
lor. Sechszig Tage, hieß es, könne
man reisen, ohne das Ende zu erreichen;
neun Tage seien nöthig, um es in der
Breite zu durchmessen. Da gab es
neben Tannen, Kiefern, Eiben und
Buchen gewaltige Eichen, ungezählte
Jahrhunderte alt, deren knorrige Wur¬
zeln den weichen Boden unterhöhlten
und zum Hügel emporhoben. Nicht
selten durchbrachen sie ihn, stiegen bogen¬
förmig bis zu den herabhängenden Zwei¬
gen empor, und verwuchsen mit ihnen