Full text: Deutsches Lesebuch für Mittelschulen

27. Der Berggeist „Rübezahl" im Riesengebirge. 
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Böses im Sinne haben könne. Je wei¬ 
ter er fortschritt, desto stärker hörte er 
das Brausen unterirdischer Wässer, und 
das dumpfe Tönen ihrer Schritte 
schallte schaurig darein. Bald sah er 
vor sich ein hüpfendes Flänimchen, das 
immer größer wurde; jetzt bemerkte er 
erst, daß es ein wunderbarer Kronleuchter 
war, der inmitten einer hohen Felsenhalle 
hing. Vor ihm stand eine Pfanne, die 
bis zum Rande mit blanken Thalern 
angefüllt war. „Nimm," sprach der 
Geist, „so viel du davon bedarfst, nur 
stelle mir einen Schuldschein darüber aus, 
sofern du schreiben kannst!" 
Der arme Bauer versprach dies willig 
zu thun und zählte gewissenhaft hundert 
Thaler davon ab und stellte den Schuld¬ 
schein darüber aus. „Jetzt ziehe hin, 
armes Menschenkind," sprach der Kobold, 
„und schaffe Nutzen mit deinem Anlehen 
so gut du es vermagst. Doch vergiß 
nicht, daß du mein Schuldner bist und 
merke dir den Eingang in dies Thal 
und diese Felsenkluft genau; nach drei 
Jahren erwarte ich Kapital und Zinsen 
von dir zurück, denn außerdem werde 
ich meine hundert Thaler mit Unge¬ 
stüm einfordern." Der ehrliche Veit 
versprach dies Alles und schied mit einem 
dankbaren Herzen von seinem Wohlthäter. 
Wie verjüngt schritt er jetzt seiner Woh¬ 
nung zu. Kaum aber hatten ihn die ab¬ 
gezehrten Kinder wahrgenommen, so 
schrieen sie um Brod; sein Weib saß in 
einem Winkel, weinte und wagte nicht, 
die Augen aufzuschlagen, weil sie seinem 
verzweifelten Blicke zu begegnen fürchtete. 
Er aber ging freundlich auf sie zu und 
bot ihr die Hand und stattete ihr über 
alles Bericht ab und sagte: „Deine 
Vettern sind wackere Leute, die mich 
freundlich beherbergt und hundert Thaler 
als Vorschuß auf den Tisch gezählt haben." 
„Siehst du," sprach das WUb, stolz auf 
ihre Verwandschaft, „wären wir nur 
früher zu ihnen gegangen, so hätten wir 
uns vielen Kummer erspart!" Da wurde 
Veit der Verstellung müde und entgegnete: 
„Nimm mir's nicht übel, ich habe dich 
nur ein wenig gefoppt. Deine Vettern 
hetzten mich mit Hunden fort; allein es 
hat sich ein anderer guter Freund ge¬ 
funden, den unsere Noth rührte. Der¬ 
selbe hat mir eine gute Lehre gegeben, 
und die wollen wir uns merken: Jeder 
ist seines Glückes Schmied. Darum 
wollen wir die Hände nicht in den 
Schooß legen; wir wollen tüchtig ar¬ 
beiten, damit wir binnen drei Jahren 
Kapital und Zinsen zurückerstatten kön¬ 
nen !" 
Gesagt, gethan! Er arbeitete nun 
fleißig mit seinem Weibe und seinen 
Kindern und nach Jahresfrist schon hieß 
er allgemein der reiche Bauer. Bei allem, 
was Veit unternahm, war Glück und 
Segen. — Als nun der Abzahlungs¬ 
termin anbrach, legte er das Geld zu¬ 
recht, warf sich in den schönsten Sonn¬ 
tagsstaat und befahl dem Knechte an¬ 
zuspannen. Auch die Frau und die Kin¬ 
der putzten sich herrlich heraus und im 
scharfen Trabe rollte der Wagen dem 
Riesengebirge zu. Vor einem Hohlwege 
ließ Veit halten, stieg mit den Seinen 
ab und befahl dem Knechte, langsam den 
Berg hinaufzufahren und oben bei den 
drei Linden zu warten. 
Darauf ging er waldeinwärts durch 
wildverwachsenes Gebüsch. Wie Veit 
nun im Dickicht überall umherspähete, 
da dachte seine Frau, er habe sich ver¬ 
irrt und bat ihn, wieder umzukehren. 
Allein Veit schüttelte mit dem Kopfe und 
sagte: „Hier wohnt unser guter Freund, 
dem wir unsern Wohlstand verdanken; 
Rübezahl hat uns aus der Noth gehol¬ 
fen, und heute muß ich ihm Kapital und 
Zinsen zurückerstatten." Bei dein Worte 
„Rübezahl" erschraken Weib und Kinder 
heftig; denn sie dachten dabei an die 
Schelmenstreiche, die er so vielen Men¬ 
schenkindern schon gespielt hatte. Veit 
aber beruhigte sie, indem er ihnen jetzt 
sein ganzes Abenteuer, das er vor drei 
Jahren erlebt hatte, getreulich erzählte. 
Unverdrossen suchte er die Höhle, allein 
es war umsonst, — sie war verschwun¬ 
den. Er klapperte und klingelte mit den 
harten Thalern, er rief so laut er konnte: 
„Geist des Riesengebirges, nimm hin, 
was dein ist!" — Alles umsonst. Da 
rief der ehrliche Veit aus Leibeskräften: 
„Rübezahl! Rübezahl!" — Die Frau 
hielt ihm den Mund zu und die Kinder 
drängten sich an den Vater, als plötzlich 
das jüngste ausrief: Ach! seht nur den
	        
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