Full text: Lesebuch für Ober-Klassen in katholischen Elementar-Schulen

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Glauben seiner Jugend, den Glauben an Gott, den Herrn 
und Schöpfer der Menschen verloren, weil er sich nicht zu er¬ 
klären wußte, wie Gott der Schöpfer so entarteter Wesen sein 
könne. Trostlos stand er da, ohne Achtung vor Andern, ohne 
Hoffnung für sich, und schaute theilnahmlos in das bunte laute 
Gewühl unter seinem Fenster. 
Siehe! da fährt ein ärmlicher Bauernwagen vorüber, den 
eine Menge Menschen begleitet. Auf demselben liegt bleich und 
matt auf einem Bündel Stroh ein Mensch, zu dessen Füßen 
eine Person sitzt, die er wegen ihrer seltsamen Kleidung und 
in dieser Umgebung nicht zu deuten weiß. Eben tritt der Be¬ 
diente ein. „Was gibts da unten?" fragte der Offizier, mehr 
aus Neugierde als aus Theilnahme. Der Bediente antwortet: 
„Da hat man draußen, eine Stunde von hier, in einem Stra¬ 
ßengraben einen halberfrornen Juden gefunden, und nun bringt 
ihn eine barmherzige Schwester in ihr Kloster, um ihn dort 
zu heilen, wenn es möglich ist. Das ist Alles! — 
Eine innerliche Unruhe trieb den Offizier auf die Straße. 
Er folgte unwillkürlich der Menge, trat näher zum Wagen, 
und schaute hinauf zur Schwester, die unverrückten Blickes auf 
den erstarrten Juden, wie auf ihren Pflegesohn sah. 
Er tritt mit ihr in das Kloftef, in die Säle der Kranken 
und Sterbenden. Da sieht er die frommen Schwestern in ih¬ 
rem emsigen und liebebeseelten Wirken, wie sie die Kranken 
ohne Unterschied des Standes und der Religion mit gleicher 
Sorgfalt und Aufopferung verpflegen. Er erwägt bei sich das 
große Opfer, das diese Jungfrauen gebracht, wie sie Familie, Habe, 
Freiheit und alle Lebensfreude freiwillig hingegeben, um den 
verlassensten, ärmsten unter den Menschen, als ihren Brüdern 
und Schwestern in Christo, Tag und Nacht zu helfen ihr gan¬ 
zes Leben lang, ohne den geringsten Erdenlohn zu finden, oft 
nur, um den schnödesten Undank zu ernten. 
Er war geheilt. Das Bild dieser uneigennützigen Aufopfe¬ 
rung, dieser gänzlichen Selbstverleugnung, dieses heiligen Be¬ 
rufes in stiller Einsamkeit zum Besten leidender Menschheit, 
und allein um Gottes willen, — dieses zarte, fromme Bild 
verwischte auf einmal das furchtbare Gemälde jener Tausende 
mit erstarrtem Herzen, ohne warme Theilnahme und thätige Hülfe,
	        
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