Full text: Ausgewählte Lesestücke aus deutschen prosaischen Musterschriften für höhere Bürgerschulen und die unteren Klassen der Gymnasien (Theil 2)

4t» Erster Abschnitt. 
Frühgesang der Vögel und die sich öffnenden Blü¬ 
then der Wasserpflanzen. Pferde und Rinder wei¬ 
den nun im frohen Genuß des Lebens. Im hoch- 
aufschießenden Grase versteckt sich der schön gefleckte 
Jaguar, und erhascht die vorüberziehenden Thiere 
im leichten Sprunge, katzenartig, wie der asiatische 
Tiger. — Bisweilen sieht man (so erzählen die 
Eingebornen) an den Ufern der Sümpfe den be¬ 
feuchteten Letten sich langsam und schollenweise er¬ 
heben, dann plötzlich mit heftigem Geröse, wie beim 
Ausbruch kleiner Schlammvulkane, die aufgewühlte 
Erde wolkenartig auffliegen. Wer des Anblicks 
kundig ist, flieht die Erscheinung; denn eine riesen¬ 
hafte Wasserschlange, oder ein gepanzertes Kroko¬ 
dill steigen aus der Gruft hervor, durch den ersten 
Regenguß aus dem Scheintod erwecket. — Schwel¬ 
len allmahlig die Flüsse, welche die Ebene südlich 
begranzen, der Arauca, der Apuon und der Payara; 
so zwingt die Natur dieselben Thiere, welche in der 
ersten Jahreshälfte auf dem wafferleeren, staubigen 
Boden vor Durst verschmachteten, als Amphibien zu 
leben. Ein Theil der Steppe erscheint nun wie ein 
unermeßliches Binnen-Wasser. Die Mutterpferde 
ziehen sich mit den Füllen auf die Hähern Bänke zu¬ 
rück, welche lange, inselförmig, über den Seespiegel 
hervorragen. Mit jedem Tage verengt sich der 
trockne Raum. Aus Mangel an Weide schwimmen 
die zusammengedrängten Thiere stundenlang umher, 
und nähren sich kärglich von der blühenden Gras¬ 
rispe, die sich über dem braungefärbten gährenden 
Wasser erhebt. Viele Füllen ertrinken, viele wer¬ 
den von den Krokodillen erhascht, mit dem zackigen 
Schwänze zerschmettert, und verschlungen. Auch 
nicht selten bemerkt man Pferde und Rinder, die, 
den Nachen dieser blutgierigen Eidechsen entschlüpft, 
die Spur des spitzigen Zahnes am Schenkel tra¬ 
gen. — Dieser Anblick erinnert unwillkührlich den 
ernsten Beobachter an die Biegsamkeit, mit welcher 
die alles aneignende Natur gewisse Thiere und 
Pflanzen begabt hat. Wie die mehlreichen Fruchte 
der Ceres, sind Stier und Roß dem Menschen über
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.