Full text: Für die dritte Bildungsstufe (Theil 3)

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Gefährten bezeichnend genug der alte Grau genannt, ist eine Persönlichkeit, welche 
unwiderstehlich den Menschenkenner fesselt, und wir bedenken uns nicht einen Au¬ 
genblick, ihn zum Führer bei unsern Streifwegen durch die Insel und auf dem Meere 
zu erwählen. Er kann als Muster gelten für diesen kleinen ostfriesischen Menschen¬ 
stamm, der, auf so einem Felsen, wie auf einem mitten im Meere versteinerten 
Schiffe lebend, in und auf dem Wasser Alles sieht und findet, was zu seiner Exi¬ 
stenz erforderlich ist, bei welchem Pindar's vielfach mißbrauchter Spruch: „Das 
Vornehmste aber ist das Wasser," in jedem Momente des Daseins zur vollen und 
unmittelbarsten Wahrheit wird. Die Nächte nicht abgerechnet, hat unser Grau 
mehr als zwei Drittel seines Lebens in offenem Boote auf dem Wasser verbracht; 
das Heulen des Sturms, das Ueberstürzen der gepeitschten Wogen hat keinen Ein¬ 
stuß mehr auf seine gestählten Nerven. Während wir dem raschen Alten müh;am 
folgend die fast 300 Stufen hohen Treppe zum Felsen hinansteigen, erzählt er von 
mancher Gewitternacht, manchem Schiffbruch; wir sehen ihn kämpfen mit den sich 
thürmenden Wogen, um einem entmasteten, hilflos auf dem Wasser treibenden 
Fahrzeuge Rettung zu bringen. Mit Begeisterung erzählt er von den Glanzzeiten 
Helgolands während der Continentalsperre (wo die Franzosen allen Handel mit 
England verboten hatten und von Helgoland aus ein freilich einträglicher, aber 
sttteuverderbender Schmuggelhandel getrieben wurde), wo die übermüthigen Kauf¬ 
mannsdiener die Fischerbuben nach Speziesthalern und Goldstücken tauchen ließen. 
Mit schlauer Heimlichkeit schildert er uns seine abentheuerlichen Fahrten aus jener 
Zeit, wo er mit einem offenen Bote die Nordsee kreuzend geheime Depeschen an die 
holländischen Küsten brachte und den Augen und Kugeln der französischen Grenz¬ 
soldaten entwischte. 
Unter solchen Gesprächen erreichen wir die Höhe; ein Pfad von fünf Minuten, 
wegen der dürftigen Cultur von den Badegästen scherzend die Kartoffel-Allee (denn 
andere Baum-Alleen giebt es hier nicht) genannt, führt uns auf den höchsten Punkt 
der Insel, das Belvedere, und hier breitet sich ringsumher das grenzenlose Meer 
aus, ein erhabener Anblick! Unsere Gesellschaft hat sich indessen vermehrt. Einige 
Damen, ein paar Naturforscher und Aerzte und einige englische Kapitäne haben 
sich uns angeschlossen. Das Gespräch wird mannigfaltiger und belebter. ■ Der 
Anblick, welcher vom Belvedere aus sich darbietet, ist eben so eigenthümlich als 
großartig. Vor uns liegt die obere Fläche des 200 Fuß hohen Felsens, links das 
kleine Städtchen mit dem niedrigen Kirchthurm, rechts der massive Leuchtthurm und 
etwas hinter ihm der alte, einer Bergruine gleichende Feuerthurm. Zu allen Ta¬ 
geszeiten, besonders während eines Sturmes, stehen hier und an dem Geländer 
der Falm die rüstigen Helgoländer, von allen Seiten das Meer nach den sie rüh¬ 
renden Ereignissen durchspähend, während die Weiber alle andern Arbeiten, selbst 
das Tragen schwerer Lasten auf der Treppe nach dem Oberlande verrichten. Nir¬ 
gends unterbricht dort ein Baum die Rundsicht; der mächtige Sturmwind, vor 
dem sich hier die kräftigsten Lootsen beugen, indem sie nur auf allen Vieren fortzukrie¬ 
chen vermögen, läßt keinen Busch über die Höhe der Gärtenzäune hervorwachsen. 
Die Insel selbst in ihrer größten Länge kaum 2000 Schritte lang, bietet keine Fern¬ 
sicht dar, alles liegt in der durchsichtigen Seeluft mit reinen deutlichen Umrissen 
vor uns. Rechts springt der westliche Rand in schmalen Felsenrippen, in gigan¬ 
tischen Bogen und grotesken Höhlen oder in einzelnen, säulenartigen Klippen röth- 
lichen Gesteins in das grünliche Meer vor. Wie der scharfe Kiel eines Schiffes 
stellt sich die Südspitze den Strömungen des Wassers von der Elbe und Weser ent¬ 
gegen. Links birgt der östliche Rand das schmale, mit etlichen dreißig Häusern be¬ 
setzte, aus Sand und Gerölle zusammengefügte Vor- oder Unterland. Weiter 
ins Meer hinaus glänzen hier in silberfarbnem Lichte die Hügel der von Helgoland
	        
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