Full text: Für die dritte Bildungsstufe (Theil 3)

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Eingebungen hielt man für gar nicht unwahrscheinlich. Doch wollte Karl sie erst auf 
die Probe stellen. Er ließ sie zu sich führen, nachdem er alle königlichen Abzeichen 
abgelegt und sich unter seine Hofleute verborgen hatte. Aber-sogleich fand sie ihn 
unter allen heraus, ob sie ihn gleich noch nie gesehen hatte. Dann vertrauete sie 
ihm, um ihre göttliche Sendung zu beweisen, den Traum an, den sie in der letzten 
Nacht gehabt hatte, versprach ihm, ihn zur Krönung nach Rheims (der alten Krö¬ 
nungsstadt der französischen Könige) zu führen, und verlangte, man sollte ihr ein 
bezeichnetes Schwert aus einer benachbarten Wallfahrtskapelle holen. Daß sie den 
König habe belügen wollen, laßt sich wohl nicht denken, sondern wahrscheinlich ist, 
daß sie sich selbst für eine vom Himmel Auserkorne hielt, und daß jene angeblichen 
Wunder erdichtet wurden, um ihr das Vertrauen des Volks und der Soldaten zu 
verschaffen. Der König war oder stellte sich ganz überzeugt von ihrer himmlischen 
Sendung. Er behielt sie bei sich, erwies ihr ungemeine Ehre, ließ ihr gleich eine 
Rüstung machen und eine weiße Fahne, auf welche Gott selbst mit einer Weltkugel 
gemalt war. So zeigte er sie dem Heere, welches ihr laut entgegen jauchzte und 
nun unbesiegbar zu sein glaubte. Wie sehr der feste Glaube an himmlischen Bei¬ 
stand auf ein Heer wirken kann, ist schon von der Eroberung von Jerusalem her 
bekannt und zeigt sich auch hier wieder. Es war urplötzlich ein ganz neuer Geist in 
die Soldaten gefahren, und ungeduldig warteten sie auf das Zeichen der Schlacht. 
Die erste Gelegenheit, wo das Mädchen benutzt werden sollte, war ein Versuch, 
den der Graf Dunois machte, die halb verhungerten Einwohner von Orleans mit 
Lebensmitteln zu versehen. Ein Haufen Soldaten war versammelt, den Zug nach 
Orleans zu beschützen. Vorher befahl die Jungfrau, daß alle Soldaten beichten 
müßten; dann führte sie Zucht und Ordnung wieder ein. Jetzt schrieb sie an die 
Anführer der Engländer, die vor'Orleans standen, und befahl ihnen, sogleich die 
Belagerung aufzuheben und Frankreich zu verlassen. „Gebt heraus", ließ sie ihnen 
sagen, „die Schlüssel alle von den Städten, die ihr bezwungen wider göttliches Recht. 
Die Jungfrau kommt vom Könige des Himmels, euch Frieden zu bieten oder blu¬ 
tigen Krieg. Wählt! denn das sage ich euch, damit ihr's wißt: das schöne Frank¬ 
reich ist nicht für euch beschieden!" — Die Engländer lachten. „Nun!" sagten 
sie, „Karl muß doch schon sehr in Noth sein, daß er zu Weibern seine Zuflucht 
nimmt." — Aber im Herzen war ihnen ganz anders zu Muthe. Abergläubisch 
waren sie so gut wie die Franzosen und dachten voll Angst daran, wo das Alles 
noch hinaus wolle. Der Zug mit den Lebensmitteln brach auf; die Jungfrau 
führte sie an mit der weißen Fahne, und sie sehen und die Waffen wegwerfen, war 
bei den Engländern eins. Ohne Schwierigkeit wurden die Vorräthe in die Stadt 
geschafft; Johanna selbst, die nun das Mädchen von Orleans genannt wurde, hielt 
ihren Einzug in die befreite Stadt, deren Einwohner sie als ihre Retterin empfingen. 
Man richtete ihr eine gute Wohnung ein bei dem Schatzmeister des Herzogs von 
Orleans, entkleidete sie — denn sie war den ganzen Tag zu Pferde und unter den 
Waffen gewesen und müde — und setzte ihr eine treffliche Mahlzeit vor. Aber mä¬ 
ßig, wie sie war, rührte sie nichts davon an; sie nahm nur eine Schale, füllte sie 
mit Wasser und Wein und schnitt einige Stückchen Brot hinein. Mehr aß sie nicht. 
Im englischen Lager war Alles wie verwandelt. Die Engländer waren so fest 
überzeugt von ihrer himmlischen Sendung, daß sie nicht gegen sie fechten wollten 
und gleich die Flucht ergriffen, sobald sie sich nur mit ihrer Fahne zeigte. Daher 
ließen sie auch nun die Franzosen in die Stadt und aus derselben ziehen, wie sie nur 
wollten. Die Franzosen, die sich bisher furchtsam hinter den Mauern verkrochen 
hatten, griffen nun selbst die Engländer an und nahmen ihnen eine Schanze nach 
der andern weg. Bei dem einen Angriffe wurden die Franzosen zurückgeschlagen; 
nur Johanna wollte nicht weichen und war schon ringsum von Feinden umgeben.
	        
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