Full text: Lesebuch für die Volks- und Bürgerschulen in Mecklenburg-Schwerin

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Sobald man die Marsch zu bebauen anfing, mußte man Sorge tragen, 
daß fie nicht in den Zeiten der Fluth vom Meere überschwemmt werde. Zu 
dem Ende warf man rings am Ufer entlang hohe Wälle oder „Deiche" auf, 
hinter denen die Saaten vor den Verwüstungen der Wogen sicher waren. 
Nun aber führen die Flüsse fortwährend schlammige Theile mit sich, setzen 
also außerhalb der Deiche neues Erdreich wieder an. Sobald es sich der 
Mühe verlohnt und das angeschwemmte Stück groß genug ist, wirft man 
neue Deiche auf und entreißt dem Meere ein neues Stück Land, um es für 
deH Anbau zu benutzen. Aber wehe, wenn die Deichs nicht sicher genug find! 
Dann bricht die rasende Fluth unaufhaltsam hindurch, als wolle sie Rache 
üben wegen des entrissenen Landes, und verbreitet Tod und Verderben über 
die ganze Fläche. Oft und schwer ist besonders Friesland von Überschwem¬ 
mungen heimgesucht worden. Bei Emden wurde vor dreihundert Jahren eine 
Stadt und vier und dreißig Dörfer vom Meere verschlungen, deren Lage die 
Fischer noch jetzt kennen wollen. 
Die Menschen bilden eine kleine Welt für sich, deren Leben und Wesen 
von dem unsrigen ganz verschieden ist. Zn den ausgedehnten Strecken trifft 
man nicht Baum, nicht Stein, nicht Quelle, dagegen Korn und Gartengewächse 
von einer bei uns nie gesehenen Höhe und Kräftigkeit und auf den Weiden 
so üppiges Gras, daß tausende von Rindern darin schwelgen und dennoch 
es kaum vertilgen können. Die Wege sind in der nassen Jahreszeit grundlos. 
Dennoch darf kein Wagen die Deiche befahren. Nur der Arzt, der sonst auf 
keine Weise zu den Kranken kommen kann, erhält die Erlaubniß, in solchen 
Fällen auf den Wällen zu reiten. Die ganze Marsch ist von Kanälen 
durchschnitten, welche das Wasser aufnehmen und ableiten. Wer zu Fuß 
ausgeht, vergißt nicht, eine Springstange mitzunehmen, um mit deren Hülfe 
über die Kanäle setzen zu können. Das Trinkwasser wird beim Regen auf¬ 
gefangen oder aus den trüben Gruben genommen und durch Gießen über 
einen Stein gereinigt. Städte und Dörfer giebt es in der Marsch nicht, 
sondern nur einzelne mit Buschwerk umgebene Gehöfte, die auf künstlich auf¬ 
geworfenen Anhöhen erbaut sind. Die Städte liegen an der Grenze der 
Geest und schauen mit ihren belaubten Gärten und schattigen Wäldern gar 
einladend in die baumlose Marsch hinab. Das kräftige Volk, welches seine 
Wohnsitze dem Meere abgerungen hat und in beständigem Kampfe gegen das 
Meer behauptet, heißt die Friesen. 
Außerhalb der Marschen liegen die „Watten", ein flacher Strich Lan¬ 
des, der bei der Fluth mit Wasser bedeckt, bei der Ebbe aber bloß gelegt und 
mit tiefen Rinnen durchfurcht ist, die sich schlangenartig durch die Oberfläche 
hinwinden. Zur Zeit der Ebbe kann man trocknen Fußes vom Festlande bis 
zu den benachbarten Inseln gehen. Aber der Gang ist sehr gefährlich. Mit 
der zurückkehrenden Fluth dringt oft unerwartet schnell ein dicker Nebel heran. 
Dann wehe dem Wanderer, der noch auf den Watten ist! Der Nebel entzieht 
ihm den Anblick des Landes. Die Fluth dringt schnell heran; fie netzt schon 
seine Füße. In der Angst eilt er rascher und rascher fort. Aber die Rinnen 
find schon mit Wasser gefüllt; er muß sie umgehen. Dabei verliert er die 
Richtung und weiß nicht mehr, wohin er sich wenden soll. Unterdessen steigt 
das Meer langsam, aber grausig sicher höher und höher. Er schreit; aber in 
der Öde verhallt seine Stimme. Das Wasser dringt ihm bis an die Brust,
	        
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