Full text: Lehr- und Lesebuch für Töchterschulen

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Nase; bald hinkte sie, wie Luise; bald hielt sie sich dar¬ 
über auf, wenn Jemand ein Versehen in seinen Arbeiten 
gemacht hatte, und erwähnte es viele Tage lang. O, 
wie vielen Verdruß machte Wilhelmine ihren Mitschülerin¬ 
nen; oft trieb sie es so arg, daß sie darüber weinen mu߬ 
ten. Fast mit Allen lebte sie in beständigem Zwist, und 
Alle waren ihr gram. 
Ihr Lehrer bat sie liebreich, sie möchte sich doch Mühe 
geben, diesen häßlichen Fehler abzulegen. „Gewiß, sagte 
er, entstellt das Herz des Menschen nicht leicht erwas mehr, 
als der unselige Hang, sich über Andere lustig zu machen. 
Spottsuchr unterdrückt die edleren Gefühle, kränkt oft An¬ 
dere tief und macht den,,der daran leidet, bei seinen Ne¬ 
benmenschen verhaßt; sie bahnt den Weg zu vielen Lastern 
und ist ein Gift, das Leib und Seele zerrüttet; sie entstellt 
die schönste Gestalt und drückt sich gewöhnlich auch auf sei¬ 
nem Gesichte unverkennbar aus. Mache dich daher, mein 
liebes Wilhelminchen, los von dieser Feindinn deinerRuhe 
und deines Glücks, und werde milder und billiger gegen 
deine Mitmenschen!" 
Diese Ermahnungen wirkten Vortheilhaft auf Wilhel- 
minens Herz. Sie wurde aufmerksamer auf sich selbst, 
unterdrückte bei Zeiten den Hang zur Spottsucht, wenn 
er sich in ihr regte, und so verlor sich dieser bei ihr endlich 
ganz; ja es kam endlich so weit, daß ihr selbst kein Mensch 
verhaßter wurde, als ein Spottsüchtiger. Spotte des 
Betrübten nicht; denn es ist Einer, der kann 
Beides, erniedrigen und erhöhen. Sir. 7,12. 
Der Spötter ist ein Greuel vor den Leuten. 
Sprüchw. 24, 9. 
41. Argwohn. 
Lisette klagte eines Tages ihrer Mutter, daß ihr ein 
kleines niedliches Schächtelchen fehle, das sie von einer 
Freundinn zum Geschenke erhalten habe. Gewiß, sagte 
sie, hat es meine Schwester Fanny weggenommen, der 
ich überhaupt nicht viel traue, da sie sich so oft heimlich 
über mich lustig macht. — Diese Klage habe ich, antwor¬ 
tete die Mutter, schon oft von dir gehört, sie aber im-
	        
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