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ftanb, aus der Tasche fallen. Einer der Anhänger der Königin
fand ev und brachte es ihr, und nun sah sie, in welcher großen
Gefahr sie schwebte. Aber als eine kluge Frau faßte sie sich bald.
Sie ging zum Könige, setzte sich ruhig zu ihm, und als er wieder
auf seine theologischen L-ätze das Gespräch brachte und sie um ihre
Meinung fragte, antwortete sie, solche tiefe Untersuchungen paßten
sich nicht für Weiber, dem Manne käme es allein zu, die Grund¬
sätze für die Frau zu wählen, und diese müßte in allen Dingen die
Denkart ihres Mannes annehmen, sie müsse das um so mehr, da
sie so glücklich wäre, einen Mann zu besitzen, der imstande wäre,
Neligionsvorfchriften für ganze Nationen zu entwerfen. Je länger
sie sprach, desto mehr klärte sich das Gesicht des Königs auf, und
endlich rief er, indem er sie umarmte: „Nein, bei der heiligen
Maria, du bist ein Doktor geworden, Käthchen, und bist geschickter,
mich zu unterrichten, als ich dich!" Sie antwortete bescheiden,
dies Lob käme ihr gar nicht zu, sie habe wohl zuweilen gewagt,
eine andere Meinung auszustellen, das habe sie aber nur getan, um
mehr Leben in die Unterhaltung zu bringen und ihm Gelegenheit
zu geben, sie zu belehren. „Ist das wirklich wahr, meine Liebe?"
rief Heinrich, „nun dann sind wir ja wieder vollkommen gute
freunde." Als nun beide in freundlichem Gespräche umhergingen,
kam der Kanzler, rief den König beiseite und brachte ihm die Nach¬
richt, daß der Prozeß eingeleitet sei. Aber er kam schlimm an.
Der König nannte ihn einen Narren über den andern, so daß der
Mann ganz verwirrt davonschlich. — Heinrich starb im Jahre
1547.
14. Johanna Gray. — Maria brnt England.
Heinrichs VIII. Sohn, Eduard VI. (1547 — 53), wurde nun
König, ein erst zehnjähriger, gutgearteter Knabe. Obgleich er noch
so jung war, wollte man ihn schon verheiraten und zwar an die
junge Königin von Schottland, Marin Stuart, damit beide
Königreiche vereinigt würden. Aber die Schotten konnten die Eng¬
länder nicht leiden und schickten die junge Maria lieber nach Frank-