Full text: Mit erläuternden Abbildungen aus den Gebieten der Erd- und Naturkunde und der Geschichte, wie mit geschichtlichen und literaturgeschichtlichen Charakterköpfen nach Originalzeichnungen (Theil 4, Abtheilung 1, [Schülerband])

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34. Der Räͤuber und das Kruzifir. 
34. »Der Räuber und das Kruzisir. 
Auf dem öden Scheidewege, hinterm hohen Kruzifixe, 
mit dem Säbel in dem Gurte, in der Hand die gute Büchse, 
steht der Räuber, stumm und lauernd, und des Auges dunkeln Strahl 
läßt er rasch wie einen Falken abwärts fliegen in das Thal. 
Denn den Kaufmann will er fangen, der aus weit entlegnen Ländern 
heut zurückkehrt zu den Seinen, reich an Gold und Prachtgewändern; 
und was mühsam er erworben auf der Wand'rung nah und fern — 
an dem Räuber, dem gewalt'gen, find't es plötzlich seinen Herrn. — 
Abend wird's, die Sterne flimmern; mit dem Säbel und der Buchse, 
stumm und lauernd, steht der Räuber hinterm hohen Kruzifire. 
Horch, da tönt's wie Engelstimmen! Leise Seufzer, laute Klagen 
kommen hell wie Abendglocken durch die stille Nacht getragen. 
Süß, mit ungewohnten Tönen, stiehlt Gebet sich in sein Ohr, 
und er steht und lauscht verwundert hinterm Kruzifix hervor. 
Alle sind's des Kaufmanns Kinder, in der Jugend Blüthejahren, 
braunen Auges frische Knaben, Mägdelein mit blonden Haaren; 
dicht beim Räuber vor dem Kreuze beugen sie das Knie, 
für die Rückkehr des Geliebten, ihres Vaters, flehen sie: 
„O du Schirmvogt der Verlaßnen, Hort und Pfleger du der Waisen, 
laß den Vater, unsern theuern, ungefährdet heimwärts reisen! 
Den du freundlich schon geführt hast durch die Wüste und das Meer, 
breit auch nun die holden Arme wie zwei Flüglein um ihn her, 
daß kein Sturm den Pfad zerwühle, daß kein Irrlicht ihn umschwirre, 
daß sein gutes Roß nicht strauchle, nicht sein Fuß vom Wege irre, 
daß kein Räuber, stumm und lauernd, in der Waldschlucht ihn entdecke, 
kein Verrath den Heimgekehrten an der Schwelle niederstrecke!“ 
Also flehten sie; der Räuber hört es hinterm Kruzifirxe, 
schnallte fester noch den Säbel, spannte schärfer noch die Büchse. 
Und der Jüngste, niederkniend, hub noch einmal an zu lallen: 
„Lieber Herr! Ich weiß, die Amme sagt' es mir, du hilfst uns allen, 
jeden Hauch vernimmst du droben; freundlich wie das Sonnenlicht 
über alle, Gut' und Böse, neigest du dein Angesicht; 
gieb den Räubern, den gewalt'gen, die da schwärmen auf den Wegen, 
gieb ein Haus, darin zu wohnen, einen Vater, sie zu pflegen, 
warme Kleider, blanke Schuhe, Wein und Speise mancherlei, 
daß sie nicht zu rauben brauchen, und der Vater sicher sei! 
Wüußt' ich, wo ein Räuber wäre, ging' ich zu ihm ohne Beben, 
dieses Kettchen hier am Halse, diesen Ring wollt' ich ihm geben, 
meinen Pelz, den scharlachrothen, dieses Mützchen auch dazu; 
nimm dir alles, lieber Räuber! Nur den Vater schone du!“
	        
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