Full text: Der Bildungsfreund in den Oberclassen deutscher Volksschulen

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der Leser diese auffasse. Wer das nicht kann oder zu träge 
und flüchtig ist, um es zu thun, erreicht den nächsten Zweck 
des Schreibens und Drückens nicht. Die Frage: '/Verstehst du 
auch, was du liesest?" ist darum überall die erste. 
Zum Verstehen des Autors, sei es eines Buches, eines 
Aufsatzes, eines Briefes, gehört, daß wir die Begriffe kennen 
der Wörter, deren er sich bedient, der Beziehungen, die er 
ihnen gibt, und den Zusammenhang aller einzelnen Theile mit 
dem Ganzen. Das ist nicht immer so ganz leicht, selbst wenn 
die beschriebene Sache auch nicht zu den schwerern gehört und 
der Verfasser die Gabe der verständlichen Darstellung besitzt. 
Jeder Vers, setzt gewisse Vorkenntnisse voraus, keiner schreibt 
für Jeden, der mechanisch lesen kann. Mit Unrecht klagt wol 
Mancher darüber, daß er ein Buch nicht verstehe. Nur dann 
darf man dem Verf. einen Vorwurf machen, wenn die mittlere 
Hälfte der Leser, für die er schrieb, nicht hinreicht, zu verste¬ 
hen, was er meint. Denn das versteht man unter dem Ver¬ 
stehen eines Autors: die Auffassung seiner Gedanken, Mei¬ 
nungen, Ansichten. Natürlich gibt es mancherlei Grade dieses 
Verstehens. Der Erste versteht ihn ganz, der Zweite halb, 
dem Dritten schwanet nur etwas von dem Sinn, und ein 
Vierter mißversteht lhn gar. Zum vollen Verständniß gehört, 
daß man Nichts zurückläßt, was in der Darstellung liegt, und 
daß man nichts Fremdes hineinträgt. Begreiflicher Weise findet 
der eine Leser mehr in einem Buche, als ein Anderer, der eo 
doch auch versteht. Dieß gilt namentlich von den Schriftstel¬ 
lern erster Sorte. Diese drücken nicht Alles, was sie denken 
und empfinden, durch bestimmte Sätze und Wörter aus. Man¬ 
ches deuten sie nur an. Bei den tiefsten Schriftstellern steht 
Vieles zwischen den Zeilen. Oft geht uns erst bei dem dritten, 
vierten, zehnten und zwanzigsten Lesen das rechte Licht auf, und 
wir finden, so oft wir das Lesen auch wiederholen, immer 
Neues. Dieß ist ein sicheres Zeichen, nicht nur von der Tiefe 
des Schriftstellers, sondern auch von unserm Fortschreiten. Wer 
diese Erfahrung gemacht hat, kennt die Freude, die diese Wahr¬ 
nehmung verursacht, nämlich bei dem, der seine Freude in der 
Entwicklung seines Lebens, besonders seines innern, sucht. Ihn: 
Heißt Lesen — Fortschreiten, und ihm ist das Lesen ein Mittel 
seiner Bildung. Asto: Lesen heißt Verstehen, Lesenlehren 
heißt Verstehen-lehren. 
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