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Gewalt, eine Macht, deren Einfluß sich nicht leicht eine Menschenseele
zu entziehen vermochte. Man mußte immer und immer wieder in diese
Zauberaugen hineinschauen; es war, als sollte man dann ganz über¬
irdisch schöne Dinge erfahren, als sollte man dann gut werden oder
Flügel bekommen, und das Herz hob sich in der Brust, als zögen es
diese dunklen Augen gewaltsam zu sich, von denen man glauben mußte,
daß sie, um nicht zu blenden, einen schwarzen Schleier über das uner¬
gründliche Lichtmeer geworfen hätten, das in ihnen wogte und wallte.
Es war dieser Mann, von dem wir reden, der Herr Kantor
Johann Sebastian Bach, wohlberühmt in der ganzen Stadt wegen
seines gar prächtigen Orgelspiels. Die guten Leute sagten ihm aber
sonst nach, daß er ein wunderlicher Kauz sei, mit dem man nicht gut
fertig werden könne, und schüttelten oft über seine merkwürdig krausen
Figuren und unverständlichen Phantasien ans der Orgel die weisen
Köpfe. Es konnte aber doch kein einziger die Kirche verlassen, wenn
der Kantor eben spielte, und ein Schauer nach dem andern flog durch
die Seele der Hörer, wenn die mächtigsten aller Töne aufschwollen und
dahinbrausten, als sollten sie die Kirchenmauern zersprengen und das
schwache Häuflein der bebenden Menschenkinder unter den stürzenden
Trümmern begraben.
An der rechten Seite des Kantors saß seine Frau, eine kräftige
Gestalt mit klaren, guten Zügen und frommen Augen in schneeweißer
Haube und blendendem Busentuche. Sie hielt ihren jüngstgeborenen
Sohn, Christoph, ein derbes Kind von etwa drei Monaten, auf dem
Schoße. Mehrere andere kräftige Burschen lagerten um die Mutter
herum, behaglich gebratene Äpfel verspeisend und mit dem kleinsten
Brüderchen spielend. Bachs ältester Sohn, Friedemann, eine große,
stattliche Gestalt, dem Vater ähnlich, nur ohne dessen milde Freund¬
lichkeit, stand in der Nähe des riesigen Kachelofens und schaute gedanken¬
voll auf die lärmende Gruppe der jüngeren Geschwister. Zur Linken
des Kantors hatte ein schlanker, jugendlicher Mann Platz genommen,
in feinem Anzug und dichtem, schwarzem Haar, dessen sanftes, bräun¬
liches, liebenswürdiges Gesicht eine bedeutende Ähnlichkeit mit dem Kraft¬
antlitze des Familienhauptes verriet. Es war Bachs zweiter Sohn,
Philipp Emanuel, zum Besuch anwesend, aus Frankfurt an der
Oder gekommen nach langer, beschwerlicher Reise, um die geliebten Seinen
zu überraschen. Eben hatte er seinein Vater von der neuen musikalischen
Akademie erzählt, die er in Frankfurt errichtet und mit Glück dirigiere,
hatte auch viel von dem Fleiß und den Talenten seiner Scholaren ge¬
sprochen und zog jetzt schüchtern einige Notenblätter aus der Tasche.
Errötend schob er sie dem Kantor hin mit den Worten: „Herzliebster
Vater, seht zu, ob es etwas taugt!" Es war eine schöne Sonate, die
der alte Bach mit freudefeuchten Augen und leiser Fingerbewegung durch¬