Full text: Europa's Länder und Völker

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rus zeigt jedem Eintretenden seine schrecklichen Zähne; aus den 
Augen der drei Höllenrichter spricht die unerbittlichste Strenge, 
und den armen durstigen Tantalus vermag man nicht ohne Mit¬ 
leid anzusehen;^ bis über die Brust steht er im Wasser und kann 
nicht trinken; über ihn hängt bis nahe an den Mund ein schöner 
fruchtbeladener Obstzweig herab, und er kann ihn nicht erreichen.— 
Ich übergehe die andern Sehenswürdigkeiten, und verlasse diesen 
mit Gegenständen ans der Mythologie allzusehr überladenen schauer¬ 
lichen Aufenthalt, um erheiterndere Ansicht.« zu suchen. 
Noch weiter bergab kömmt man zu einem großen Wasserbe¬ 
hälter, in dessen Mitte eine der höchsten Fontaine« in ganz Deutsch¬ 
land nicht springt, sondern mir einer unglaublichen stärke her¬ 
ausschießt. Hoch oben in der Luft, 160 Fuß über der Erde, 
verwandelt sich das Wasser in einen feinen Staubregen, und fällt 
so in einem weiten Kreise in das Becken herab. Ich weilte bei 
dem schönen Wasserspiele, und war ganz im Anschauen verloren, 
als ich gewahr wurde, daß sich Alles nach dem römischen Aquä- 
duet drängte. 
Auch ich eilte dahin. Zwei Stunden weit ist hierher das Was¬ 
ser über Berg und Thal geleitet, leider aber nicht in solcher Menge, 
daß es immerwährend fallen kann, sondern erst in dazu bestimm¬ 
ten Behältern vorher gesammelt werden muß, weßwegen wir auch 
eine geraume Zeit warten mußten. Endlich wurden die Züge ge¬ 
öffnet und das Wasser stürzte sich unter dem stärksten Brausen 
317 Fuß tief herab und vereinigte sich schäumend mit einem vor- 
übcrflicßenden Waldstrome. — Die Pracht dieses Anblicks zu be¬ 
schreiben, ist unmöglich; jedes Blatt im Thale zitterte bei dem 
Toben des fallenden Wassers, und wir Alle waren in stumme Be¬ 
wunderung versunken. Die Abendsonne verbreitete einen röthli- 
chen Schimmer über das ganze Thal,, und die Ruinen einer al¬ 
ten römischen Villa, über die der Aquaduct kühn und meisterhaft 
weggeführt ist, geben dem ganzen Gemälde einen besondern Reiz. 
Wir kehrten jetzt in das Gasthaus zurück; unsere Augen hat¬ 
ten sich ergötzt, aber nun machte auch der Magen seine Ansprü¬ 
che geltend. Der Gasthof selbst war wie mit einer Wagenburg 
umringt; man speiste in zahlreicher Gesellschaft, man hörte Mu¬ 
sik, man tanzte und fuhr erst nach Mitternacht in die Stadt zurück. 
Ich lernte bei dieser Gelegenheit und bei meinem langern Auf¬ 
enthalt in Kassel die dasige schöne Welt näher kennen. Weiber 
und Mädchen höher« und mittlern Standes sind fast durchgängig 
schön, die meisten auch gut gewachsen und haben einen gewissen 
Anstand, der für sie einnimmt. In ihren gesellschaftlichen Ver¬ 
einen herrscht ganz der ungezwungene Ton, der dem weiblichen 
Geschlechte von guter Erziehung so großen Reiz in den Augen 
der Männer gibt; und in der schweren Kunst, eine natürliche 
Fröhlichkeit mrt Würde, und Freiheit mit Sittlichkeit zu verbin¬ 
den, sind sie so weit gekommen, daß sie Jeden durch ihre liebens-
	        
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