Full text: Geschichte der neueren und neuesten Zeit (Theil 3)

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Bedeutsame durch dieses Streben in eine niedere, oft sehr niedrige 
Sphäre herabgezogen wurde. 
Aus diesem Streben nach Naturwahrheit ging das lebenswahre 
und lebenswarme Colorit von Rubens hervor, durch welches er seine 
Zeitgenossen so sehr zur Bewunderung hinriß, daß Guido Reni bei 
einem Bilde von Rubens ausrief: „Mischt dieser Maler Blut unter 
seine Farbe?" Mit diesem überwiegendem Talent für die Farbe in 
allen ihren Abstufungen steht bei Rubens der Formen sinn nicht im 
Gleichgewicht. Wohl kannte er die Natur auch von dieser Seite voll- 
kommen, Verhältniffe und Gestaltung der Körper und aller Körpertheile; 
allein er liebte es mehr, sie nur anzudeuten, als sie klar und streng 
durchzubilden. Seine Formen sind aber nicht nur nicht durchgebildet, 
im strengen Sinne, sondern es fehlt ihnen auch Adel, Schönheit und 
Anmuth. Seine energische Hinneigung zur Naturwahrheit fand in 
den niedern Lebenserscheinungen mehr Befriedigung, als in den höheren. 
Das Rohe und Derbe mochte ihm natürlicher und darum wahrer er¬ 
scheinen, als das Hohe und Feine. 
Die Bildnisse von Rubens sind unübertroffene Meisterwerke, aus 
denen uns die einzelnen Personen mit ihren Neigungen und Gewohnheiten, 
heftigen oder ruhigen Gemüthsverfaffungen, heitern oder ernsten Stim¬ 
mungen, freundlichen oder feindlichen Gesinnungen, kurz mit ihrem 
ganzen Thun und Lassen leibhaftig entgegentreten. Als Historien¬ 
maler hat Rubens eine Menge und Verschiedenartigkeit des Stoffs 
bewältigt, wie kaum je ein anderer Künstler. Wir finden bei ihm 
christlich-religiöse, alt- und neutestamentliche Gegenstände, Legenden 
und Wundergeschichten, Götterfabeln und Allegorien, Erzählungen der 
alten Dichter, Begebenheiten aus der alten, aus der neueren und der 
neuesten Geschichte in einzelnen Bildern oder ganzen Reihenfolgen. Ein 
je offeneres Auge aber Rubens für die sichtbare, wirkliche Welt hatte, 
desto ferner lag ihm eine Welt der Vergangenheit oder des bloßen Ge- 
dankens. Seine Charaktere, die als Bildnisse Lebender sprechende Per¬ 
sönlichkeiten sind, nehmen an Individualität und Bedeutsamkeit der 
Züge ab, je weirer sie von der Gegenwart und Wirklichkeit abliegen. 
Bei ihm tritt kein Unterschied hervor zwischen wirklichen und Phantasie- 
Gestalten, zwischen Göttern und Menschen, zwischen Zeiten und Völkern, 
und selbst ganz klar umschriebene historische oder poetische Charaktere, 
wie etwa ein Mars, ein Alexander oder ein romantischer Ritter, sondern 
sich durch keinen bezeichnenden Zug von einander ab. Rubens verwen- 
dete dieselbe Gruppe einer knieenden Mutter mit zwei Kindern einmal 
als Latona mit Apollo und Diana, welche die das Wasser trübenden 
Bauern in Frösche verwandelt, und ein anderes Mal als eine Beterin 
vor dem Throne der Madonna. War ihm somit ein Einblick in die 
geschichtlichen Charaktere und ihr inneres Leben versagt, so stand die 
äußere Handlung mit um so größerer Klarheit und Bestimmtheit vor 
seiner Einbildungskraft. Denn im hohen Grade besaß er das Talent 
dramatischer Darstellung. Seinem ganzen Naturell nach nahm 
Rubens eine Begebenheit, gleichviel ob sie von der Religion und 
Kirche, von der Dichtkunst, der Geschichte oder dem Leben her Gegen¬ 
wart überliefert worden war, einfach als solche, in ihrer äußeren Er¬ 
scheinung, als einen wahren Vorgang, realistisch, naturalistisch. Es
	        
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