Full text: Geschichte der neueren und neuesten Zeit (Theil 3)

79 
die Jahrhunderte lang verehrten Formen des kirchlich-politischen Lebens, 
in welchen man jetzt nur noch den Widerspruch wahrnahm mit dem 
echten ursprünglichen Christenthum, nur den Dienst, der einer drückenden 
und verhaßten Gewalt durch sie geleistet wurde. Dieß konnte selten 
ohne Gefahr und Nachtheil, ohne Aufopferungen und Leiden für die 
Einzelnen geschehen, welche sich eben damit dem Haß und der Verfol¬ 
gung von der anderen Seite aussetzten. Ueberall war der Uebergang 
zum gereinigten Bekenntniß mit dem größten Nothstände und Wider¬ 
stände verbunden. 
In den Niederlanden brach 1523 eine heftige Verfolgung aus, in 
der zwei junge Augustiner von Antwerpen zu Brüssel zum Scheiterhaufen 
verdammt und verbrannt wurden. In Schwaben wüthete 1524 ein wahn¬ 
sinniger Ketzermeister. Im Elsaß wurde mit Hinrichtungen gegen die 
Evangelischen verfahren. Enthauptungen und Scheiterhaufen wegen evan- 
gelischer Ketzerei kamen vor in Wien, Ofen, Prag. Es gab in Deutsch¬ 
land nur einen Punkt, wo keine Verfolgung stattfand, das Kurfürsten¬ 
thum Sachsen. 
Daher geschah es, daß alle, welche anderwärts flüchtig geworden 
waren, sich hierher zurückzogen, wo ihnen keine geistliche Gewalt zu 
nahe kommen konnte. Viele sehen wir aus allen Theilen von Deutsch¬ 
land hier ankommen, eine Freistatt, selbst auf einige Zeit eine Anstellung 
finden, und dann durch den Umgang mit Luther und Melanchthon in 
ihrer Ueberzeugung befestigt von hier wieder ausgehen. Wittenberg 
erschien als der Mittelpunkt der gesummten Bewegung. 
Da noch kein Kirchenregiment im evangelischen Sinne vorhanden war 
und man wenigstens für die Kirche jedes einzelnen Landes eine allge¬ 
meine Ordnung anstrebte, so war es natürlich, daß man sich von allen 
Seiten an Luther wandte und von ihm, der das Verderben nachgewie¬ 
sen, auch Rathschläge zu besserer Einrichtung begehrte. Dadurch wurde 
es erst möglich, daß in den Bestrebungen eine gewisse Einheit obwaltete, 
in denselben ein gemeinsamer Fortschritt zu bemerken ist. Auch für die 
Entwickelung der Universität Wittenberg war der Zutritt der fremden 
Elemente von großem Werth. Die Universität erhielt den Charakter 
einer vaterländischen Vereinigung; aus allen deutschen Landen kamen 
die Lehrer und Zuhörer und gingen von da wieder nach allen Seiten 
hin aus 
Eine eben so wichtige Metropole bildete Wittenberg für die Lite¬ 
ratur. Erst mit dieser Bewegung kam die deutsche populäre Literatur 
zu allgemeiner Aufnahme und Wirksamkeit. Bis zum Jahr 1518 waren 
ihre Erzeugnisse nicht zahlreich; aber gewaltig steigt die Anzahl seit 
Luther's Austreten. Im Jahr 1518 finden wir deren 71, 1519 111, 
1520 208, 1521 211, 1522 347, 1523 498 verzeichnet. Die meisten 
erschienen in Wittenberg, und Luther war der bedeutendste Autor. Wir 
finden unter seinem Namen 1518 20, 1519 50, 1520 133, 1521 etwa 
40, 1522 130, 1523 183 neue Drucke. Selbstherrschender, gewaltiger 
ist wohl nie ein Schriftsteller aufgetreten, in keiner Nation. Auch hat 
wohl keiner die vollkommenste Verständlichkeit und Popularität, gesunden 
treuherzigen Menschenverstand mit so viel echtem Geist, Schwung und 
Genius vereinigt. Anfangs führte Luther allein das Wort; seit 1521 
betheiligten sich auch seine Jünger, Freunde und Nebenbuhler. Im
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.