Einleitung.
Die Ideen, die der religiösen Reformation des 16. Jahrhunderts
zugrunde lagen oder aus ihr erwuchsen und ihren Verlauf beeinflußten,
führten auch zu einem neuen Staatsideal. Aber die sich anbahnende
Befreiung des menschlichen Geistes aus den Banden einer das individuelle
Leben unerträglich einschränkenden Autorität hatte in politischer Beziehung
nicht, wie man erwarten sollte, eine verstärkte Anerkennung der staats-
bürgerlichen Einzelpersönlichkeit zur Folge. Vielmehr verstanden es die
protestantischen Landesherren als Erben eines ansehnlichen Teiles des Be-
sitzes und der Aufgaben der mittelalterlichen Kirche, alle daraus entsprin-
gende Machterweiterung nur zur Stärkung ihrer eignen Stellung auszu-
nutzen, und die katholischen Fürsten blieben in diesem Bestreben hinter
ihnen nicht zurück. So finden wir an der Schwelle des Zeitalters des
Individualismus — und dies gehört zu den scheinbaren Widersprüchen
im Werdegang der Menschheit — gleichzeitig das Emporblühen des starrsten
fürstlichen Absolutismus.
Freilich bedeutet das Jahr 1648, mit dem der letzte Teil unsrer
Aufgabe einzusetzen hat, für die allgemeine Entwicklung keinen besonderen
Einschnitt, wohl aber für die deutsche Geschichte: der Westfälische
Frieden ist, wie wir gesehen haben, der Eckstein des landesherrlichen Ab-
solutismus in Deutschland und damit zugleich der Totengräber des mittel¬
alterlichen „heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" geworden. Für
die weitere Gestaltung der Geschicke Deutschlands war jetzt die Frage ge-
stellt, ob der Ausbau aller der zahlreichen Territorien zu Einzelstaaten, d. h.
die völlige Zersplitterung der Reichsteile, oder eine starke repräsentative
Zusammenfassung der gesamten Reichsmacht unter einer Hand der Ration
das Zuträglichste sein sollte.
Die Entscheidung hierüber hing bei einem Lande, das man das
„okzidentalische Reich der Mitte" nennen könnte, naturgemäß von seinem
Verhältnisse zu den Nachbarstaaten ab: im Jahre 1648 war Deutschland
zertreten, Frankreich der führende Staat des europäischen Kon-
tinents — das Jahr 1870 erst sollte die Antwort auf jene große, die
letzten zweieinhalb Jahrhunderte beherrschende Frage der deutschen Ge-
schichte geben.
Schenk-Koch, Lehrbuch b. Geschichte, IX. 2. Stuft.
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