Full text: Lesebuch für Mädchenfortbildungsschulen und ähnliche Anstalten

398 
Aus der vaterländischen Geschichte. 
Gegen 10 Uhr ist der Kaiser wieder in seinem Arbeitszimmer. Jetzt be¬ 
ginnen die Vorträge und Konferenzen, die meist in dem angrenzenden Vortrags¬ 
zimmer abgehalten werden. 
4. Um ein und ein viertel Uhr findet das zweite Frühstück statt. Meist 
speisen die Majestäten ganz allein im Salon der Kaiserin, nur an zwei Tagen der 
Woche nimmt die nächste Umgebung an dieser Mittagstafel teil; so ist es heute. 
Verfammlungsort ist der oben genannte Pfeilersaal. Die Hofdamen der Kaiserin, 
der Hausmarschall und der diensttuende Kammerdiener sind bereits da. Jetzt 
kommen die drei Prinzen — Adalbert, August Wilhelm und Oskar — in ihren 
schmucken Matrosenanzügen mit Gouverneur und Erzieher. Meist essen sie eine 
Etage höher im eigenen Speisezimmer; doch dann und wann kommen sie mit „zu 
den Großen". Vor wenigen Minuten erst sind sie aus Bellevue zurückgekehrt. 
Es geht ja diesen kaiserlichen Kindern wie ihren Eltern, sie werden von Un¬ 
zähligen beneidet; man denkt sich solch „kleine Königliche Hoheit" mit goldenen 
Kugeln und silberner Armbrust spieleud, stets von einem unterwürfigen Lakaien 
bedient und vor allem verschont von jeder Strenge und Anstrengung. Wie ver¬ 
kehrt! Der Prinzen Lebensweise, Kleidung, Spielzeug — alles ist so schlicht, so 
einfach, wie etwa in einem vornehmen Privathause; ihre Erziehung ist so streng, 
ihr Tageslauf so geregelt, wie kaum bei einem andern Kinde. 
So haben auch sie jetzt ihren strammen Vormittag hinter sich mit vier oder 
fünf Stunden Unterricht. Bellevue heißt freilich „schöne Aussicht", aber das be¬ 
zieht sich für sie nicht so sehr auf Hof und Park als auf Hefte und Bücher. In 
dem kleinen Schlößchen, seitab gelegen vom Gerassel der Hauptstadt, hat jeder der 
Prinzen sein eigenes Schulzimmer mit Wandtafel und Kartenständer und Normal¬ 
pult, hier wird wie in jedem andern Schulzimmer gelesen und gerechnet, Geographie 
der Länder und Geschichte der Völker getrieben, deutsch, lateinisch, französisch und 
englisch gesprochen, und hier wird auch um Ostern das Examen abgehalten „vor 
Kaiser und Reich". Hat aber der Pedell in Gestalt eines Lakaien zur Pause ge¬ 
klingelt, dann geht es ebenso tapfer auf die Räder an die Festungsgräben oder 
zum Prinzeßchen, das im Park seine Morgenpromenade macht. 
Jetzt richten sich die munteren Augenpaare ., auf die geöffnete Tür: Mama 
tritt ein. Es ist wieder stürmischer Empfang. Ähnlich wie Gemahl und Kinder 
hat auch die Kaiserin ihren reichbesetzten Vormittag gehabt. Was hat sich wieder 
alles in die drei bis vier Stunden seit der Ausfahrt hineingedrängt — ich weiß 
es nicht. Vielleicht war die hohe Frau in Bellevue und hat, über ihre Handarbeit 
gebeugt, dem Unterrichte der Kinder zugehört. Vielleicht ging's dann..hinab zur 
S^asenhaide, ins Elisabeth-Kinderhospital. Wie sind so plötzlich alle Ängste und 
chmerzen der Kleinen vergessen, als die hohe Protektorin eintritt und nun so 
leutselig, ja so mütterlich zwischen den Bettchen hin- und hergeht, dem einen Kinde 
die Hand auf die fieberheiße Stirn legend, das andere Kind auf ihre Arme 
nehmend und ihm die gelbe Rose von der Brust schenkend, dem dritten Kinde ein 
Bilderbuch, von ihren Kindern selbst geklebt, aufs Bettchen breitend — für jedes 
ein herzliches Wort, einen freundlichen Gruß und dann beim Abschied ein baldiges 
Wiedersehen versprechend — wer will den Segen berechnen, den solche Stunde birgt! 
Dann ging's vielleicht zu einer der neuen Pflegestationen. Unangemeldet 
trifft die Kaiserin ein, sie möchte jeden Empfang, jede Störung im Haushalt ver¬ 
meiden. Vielleicht war es hier, wo das Dienstmädchen öffnet, den Eimer vor 
Schreck fallen läßt und davoneilt: „Die Kaiserin! die leibhaftige Kaiserin!" Mit 
jeder der Pflegeschwestern spricht die hohe Frau, dann wird unter Führung der 
leitenden Schwester die Station besichtigt, jeder Raum, bis hinab in die Küche. 
Mit herzlichen Segenswünschen scheidet die Kaiserin, aber ihr Bild begleitet die 
Schwestern hinein in ihre aufopfernde Arbeit. 
Im Schloß, wohin es nun zurückgeht, wartet schon der Oberhofmeister mit 
seinem Vortrag. Er berichtet über den Zustand der Anstalten, die unter dem Pro¬ 
tektorate der Kaiserin stehen, über die Tätigkeit der Vereine, die sie ins Leben 
gerufen u. s. w.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.