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Wipfel; aber die Rinde war zerfurcht und zersprungen. «Siehe,«
sprach Julius, »wie find unsere Namen verändert und peraltert■
Ach, du Lieber, wie ist es doch so ganz anders, denn ehemals!
Hat nicht auch die Fert unsere Wangen zerfurcht und die Züge
des Angesichts uns entstellt?«
»Laß uns nicht klagen, mein Bruder,« sagte Theobald da¬
rauf, «mag auch die Schrift unserer Namen veraltet sein, sie wird
erst verwittern mit dem Leben des Baumes. Mag auch unser An¬
gesicht nicht mehr jugendlich blühen; siehe, das heilige Leben un¬
serer Freundschaft ist uns geblieben, und wir sind noch immer die
Nämlichen. Was mit heiligem Sinnr gezeichnet ist in die Rinde
des Baumes und in das reine, liebende Herz, das kann die Feit
wohl anders gestalten; aber das Wort selbst bleibt stehen mit un-
auSlöscklicher Schrift.«
Also sprachen die Freunde, und einige Feit nachher starben sie
und wurden neben einander begraben unter den Schatten der hei¬
ligen Bäume. Und mail betrachtete die Namen und die Bäume
lange mit zarter Ehrfurcht, und noch viele Jahre erhielt sich die
Sage von den beiden Freunden in der ganzen Gegend umher.
(I. H. Christ. Rönne.)
V. Geschwindigkeit.
Nichts ist groß, nichts ist klein, für sich betrachtet; alles beruht
auf Verhältnissen und auf dem Fweck, zu dem eine Sache bestimmt
ist. Etwas kann sehr klein und doch zu groß, sehr groß und doch
zll klein sein, nach den verschiedenen Absichten, zu dcneil es ange¬
wandt werden soll. Für den Wallsisch ist der Ocean ein nicht
zu großer Tummelplatz, und Millionen Thierchen stnden in einem
Wassertropfcn Raum genug. Von dem großesten der Thiere bis
zu dem Ei oder den Äderchen des kleinsten Infcctcs, welcher Ab¬
stand! Und wie verschwindet wieder alle Größe und Herrlichkeit
unserer Erde, ja unser Erdball selbst, gegen das Weltall! —
Diese Bemerkungen sind so oft gemacht, daß sie, ungeachtet ihres
erhabenen Sinnes, wenig Eindruck mehr machen, rmd doch muß
man einen von Eigendünkel verblendeten, oder einen sehr beschränk-