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in gleicher Höhe stehen und fällt dann wieder 6 Stunden bis zu sei¬
nem tiefsten Stande herab, in welchem es dann auch wieder eine Viertel¬
stunde verweilt, bis es auf's Neue zu steigen beginnt. Die genaue
Uebereinstimmung dieses Steigens und Fallens mit dem Mondeslaufe
hat zu der Einsicht geführt, daß Ebbe und Fluth von der Einwirkung
des Mondes auf die Erde veranlaßt werden. Beide Weltkörper ziehen
einander an, und der flüssige Theil der Erde, das Wasser, folgt diesem
Zuge etwas, es wird vom Monde angezogen, d. h. es strömt also nach
den Gegenden hin. über welchen der Mond sich eben befindet; hört diese
Anziehung auf, so sinkt das Wasser wieder zurück. Ferner wird die
Erde und folglich das Wasser nicht allein vom Monde, sondern auch
von der Sonne angezogen, daher sind die Fluthen auch stärker, wenn
beide Weltkörper zusammen wirken, welches beim Neumonde und Voll¬
monde der Fall ist. Am stärksten zeigt sich Ebbe und Fluth in großen
und ossenen, viel schwächer in eingeschlossenen Meeren und in Meeren,
welche wie die Ostsee fast rings umher von Land umgeben sind, fast
gar nicht.
Da bei der Fluth sich die Wassertiefen um 10 bis 15 Fuß Dicke
vermehren, so werden Gräben, die einige Stunden zuvor kaum ein
Boot zu tragen vermochten, selbst für große Fahrzeuge schiffbar. Alle
Schiffe, welche die Ebbe auf den Sand setzte, und die schief aus die
Seite gebeugt traurig dalagen wie Fische, die der Sturm ans Land
warf, richten sich gemach wieder empor und erholen sich allmählich, wie
arme Kranke, die man der frischen Lust zurück gab. Endlich lösen sie
sich völlig aus dem klebrigen Boden und schweben beweglich und schwan¬
kend empor auf dem klaren Elemente, wie flüchtende Enten, die vom
unbequemen Festland auf den glatten Teich sich gerettet. Nun wird in
allen Häfen und an allen Usern gerüstet. Schiffe aller Größen ^und
Arten spannen die Segel ans, lösen sich vom Strande und tragen ihre
Reisenden, ihre Waaren, ihre Bootschaften von Ufer zu Ufer. Auch
die großen Seefahrer, die vor den Mündungen der Ströme den Moment
der Fluthhöhe erwarteten, ziehen landeinwärts und schwimmen mit ge¬
bauschten Segeln und vollem Wasser in die sickeren Thore des Festlandes.
Es ist bemerkenswerth, daß es weit mehr Ebbe- als Fluthbilder
giebt, und in der That ist auch die Ebbe viel ergiebiger in Erzeugung
malerischer Scenen als die Fluth. Die Ebbe ist poetischer, wie' die
Armuth, das Unglück und die Noth. Da liegt das arme Schiff ge¬
strandet am Ufer und erweckt unser Mitleid. Da kriechen das Bettel¬
volk der Küstenstädte, die zerlumpten Kinder und die armen Muschel¬
sammler und Krabbenfänger hervor und schleichen an den Bollwerken
der Häfen herum, an denen ihre Ernte gereift ist, nämlich die Muscheln,
die das Meer hier säete und pflanzte. Mit der Fluth ist nur der
Reiche und Glückliche im Bunde, der seine stolzen Schiffe auf ebener
Bahn entsendet. Die Ebbe enthüllt auch eine Menge Geheimnisse der
Tiefe, welche die Fluth mit dem einförmigen Teppich des Wassers gleich-