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thes werden ausgesprochen und befriedigt; die heiligen Gerechtsame des Geistigen,
der Glaube an hie höhere Bestimmung der Menschheit, die Liebe, welche den Un¬
sichtbaren und Alles umfaßt, worin er sich uns offenbaret, das Streben nach sittli¬
cher Freyheit und Wahrheit werden als allgemein verbindliche Grundgesetze des
Lebens, geltend geinacht; Gegenwart und Zukunft treten in heiligende Verbindung
und fruchtbare Wechselwirkung. Durch innere Erfahrung des Gemüthes, auf deren
entscheidendes Urtheil Jesus Christus selbst (Joh. 7, 16, 17) verwiesen hatte,
wurde die Verbreitung der göttlichen Lehre gefördert; sie fand Eingang bey den
Bedrückten und Hülflosen, welche willig den Täuschungen des Irdischen entsagten,
das Wandelbare aufgaben und sehnsuchtvoll den Glauben an das Ewige ergriffen,
um Ruhe, Trost und verjüngte Lebenskraft in der Hoffnung seliger Zukunft zu ge¬
winnen. Weder in Rom, der Heimath sündhafter Herkömmlichkeiten, noch im
Byzantinischen Reiche, dem traurigen Schattenbilde römischer Weltherrschaft, wel¬
ches bis zu seinem lange verzögerten Falle die aus der abgestorbenen alten Welt
geretteten Bildungmittcl nach mehren Richtungen hin mittheilte und so im Sturme
einer wildbewegten Völkerschaft zu künftiger Veredelung des gesellschaftlichen Le¬
bens beytrug, weder da noch dort konnte das Christenthum über sinnliche Aeusser-
lichkeit und tiefgewurzelte Selbstsucht einen vollständigen Sieg erlangen.
,,Die eigenthümliche Kraft und Herrlichkeit des Christenthums bewahrt sich
an den Germanen, welche seit dem Untergänge des weströmischen Reiches die
abendländische Welt beherrschten und gestalteten. Dieser großartige, naturkräftige,
sreye Volksstamm wurde durch das Evangelium sittlich veredelt und ertüchtigt zur
Arbeit an dem vestbegründeten, langsam geförderten, vermittelst der wachsenden
Einsicht und des in helleres Bewußtseyn übergehenden sittlichen Gefühles sich von
Innen herausbildenden Anbau des gesellschaftlichen Zustandes. Die in kindlichem
Ueberglauben veranschaulichte Macht des Unsichtbaren, des Uebersinnlichen, des
Geistigen, brach den Gewaltsinn der rohen Naturmenschen, beschränkte und milderte
das im Eroberungleben überwiegend gewordene strenge Unterordnung - System,
weckte und nährte die Ahnungen höherer Menschlichkeit und ihrer Gerechtsame, er¬
weiterte und erkräftigte das Streben nach Selbstständigkeit. Der Inbegriff wirk¬
samer Macht lag im Schooße der Kirche; sie übte vormundschaftliche Rechte über
die germanischen Völker aus, beschränkte die Willkühr der Gewaltigen und förderte
in dem, durch Zerstörung des Alten und durch wilden Kampf des Neuen zerrissenen
öffentlichen Leben die Annäherung zu geistiger Einheit. Die kirchlichen Beamten,
rin Alleinbesitze der Bildungmittel, haben entscheidenden Einfluß auf Pflege und
Verwaltung des Gemeinwohles, sind Geschäftsführer, Rathgeber, Lehrer und Er¬
zieher; ihr Oberhaupt, der römische Bischof, erhebet sich zum Inhaber der Allein¬
macht in der Germanischen Völkerwelt und jede anderweitige Gewaltäusserung ist
seinem Willen untergeordnet. Während die kirchliche Alleinherrschaft, eine, wie
auch ihre Sprache beurkundet, religiös gestaltete Fortsetzung des Römerthums, zu
fast maaßlosem Umfange erwuchs, keimte im Schooße des Germanischen Volksle¬
bens der Saame christlichen Sinnes und des Strebens nach Gott wohlgefälliger
sittlicher Freyheit; Fürsten und Edle, Unterthanen und Knechte, wurden von dem
dunkeln Vorgefühle eines durch Allmacht des Glaubens erzeugten religiösen Selbst-
willens durchdrungen; das langsam reifende Bedürfniß der Selbstständigkeit be¬
ginnt in den Kreuzzügcn sichtbar zu werden, in dem Entschlüsse, zu streiten für-
religiöse Ehre und Freyheit, in dem, ursprünglich nothwendigen, vereinzelt schon
lange vorhandenen Kampfe gegen den trotzigen Uebermuth der Morgenländer, welche
sich zu dem schnell und weit verbreiteten Islam bekannten. Denn dieser, vieles
aus dem Judenthum und aus alten asiatischen Ueberlieferungen in sich tragende