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Prosa. — Belehrende Briefe.
standes nicht günstig ist. Wenn nun dieses Vergnügen am Nachhangen gewisser
Gedanken, die einen gewohnten Reiz über das Gemuth ausüben, der unbestimm—
ten Lust, den Blick in ein Buch zu werfen, gegenüber tritt, so bleibt meine
Wahl nicht lange unentschieden, und ich könnte sehr gut lange Zeit ohne alle
Bücher zubringen.
Sie bemerkten, daß man sehr oft fragen hört: was ist Glück? Wenn
man unter dem Worte das Glück meint, durch das man im Leben in der letz⸗
ten tiefsten Empfindung glücklich oder unglücklich ist, nicht bloß darunter ein⸗
zelne Glücksfälle versteht; so ist es recht schwer das Glück zu definieren. Denn
man kann sehr vielen und großen Kummer haben und sich doch dabei nicht un—
glücklich fühlen, vielmehr in diesem Kummer eine so erhebende Nahrung des
Geistes und des Gemüths finden, daß man diese Empfindung mit keiner andern
vertauschen möchte. Dagegen kann man im Besitz recht vieler Ruhe und Ge—
nuß gewährender Dinge sein, gar keinen Kummer haben, und doch eine mit den
Begriffen des Glücks ganz unverträgliche Leexe in sich empfinden. Nothwen⸗—
dig wird also zum Glück eine gehörige Beschäftigung des Geistes oder des Ge—
fühls erfordert, allerdings verschieden nach jedes Einzelnen Geistes- oder
Empfindungsmaß, aber doch so, daß eines jeden Bedürfnis dadurch erfüllt werde.
Die Natur dieser Beschäftigung oder vielmehr dieses innern Interesses richtet
sich aber dann nach der individuellen Bestimmung, die jeder seinem Leben giebt,
oder vielmehr die er schon in sich gelegt findet, und so liegt Glück oder Unglück
in dem Gelingen oder Mislingen des Erreichens dieser Bestimmung. Ich habe
immer gefunden, daß weibliche Gemüther in dies Gefühl lieber und williger
eingehen, als Männer, und sich auf diese Weise ein stilles Glück in einer freu⸗
denlosen, ja oft kummervollen Lage bilden. Auch für das künftige Dasein ist
diese Ansicht folgereich; denn alles Erlangen eines andern Zustandes kann
sich doch nur auf einen bereits erfüllten gründen. Man kann nur erlangen,
wozu man reif geworden ist, und es kann in der geistigen und Charakter—
Entwickelung keinen Sprung geben.
3. Geschichtksaufsͤtze.
A. Chronistische Geschichtsauffätze.
26. Aus Petermann Etterlins Chronik der Eidgenossenschaft.
GBasel, Mich. Furtler 1507.)
Nun merken alle die, so diese Geschichte werden lesen oder hören, ob nicht
schändlicher, böser Muthwille mit den Waldleuten getrieben wurde; darum nicht
unbillig ihnen Gott Glück gegeben hat, sich solches schändlichen Muthwillens zu
erwehren. Es fügte sich auf einmal, daß der Landvogt, genannt der Grißler,
gen Uri fuhr, und als er da etwas Zeit gewohnt, ließ er einen Stecken unter
die Linde, da männiglich vorüber gehen mußte, aufstecken, legte einen Hut
darauf und hatte dabei stets einen Knecht sitzen. Der Herr ließ ein Gebot
thun und ausrufen öffentlich, wer der wäre, der da vorübergienge, der sollte
dem Hut Reverenz thun und sich neigen, als ob der Herr selbst persönlich da
wäre, und welcher solches übersähe und das nicht thäte, den wollte er strafen
und schwer büßen, und sollte auch der Knecht darauf warten und ihm solches
verleiden.
Nun war ein redlicher Mann im Lande, der hieß Wilhelm Tell, der hatte