Decke frischgefallenen Schnees auf der spiegelglatten Unter¬
lage, dann kann man sich nur mit Hilfe der Axt durch Ein¬
hauen von Stufen den Weg bahnen. Die körperliche An¬
strengung, das Bewußtsein der Gefahr, das Ausgeschieden¬
sein aus der Welt der Menschen und alles Lebenden erhöhen 5
die Empfänglichkeit der Seele für die Eindrücke der um¬
gebenden erhabenen Wildnis.
Schon kann der Blick hinwegschweifen über Bergesrücken,
zu denen er bis dahin aufsehen mußte, und stückweise ent¬
wickelt sich das Panorama*. Aber noch bleibt viel zu tun 10
übrig. Aus den steil aufgerichteten Schneefeldern, die
glücklich nach mehrstündiger Anstrengung überstiegen sind,
erheben sich die Felsenabstürze. Jetzt beginnt wieder eine
ganz andere Art von Tätigkeit. Der Fuß allein reicht nicht
mehr hin, um einen Halt an der abschüssigen Wand zu ge-15
währen; es bedarf auch der Hand, die nach den kleinsten Vor¬
sprüngen und Höckern greift, damit das Gewicht des Körpers
auf mehr Stützpunkte verteilt werde. Hier ist viel weniger
auf die Steilheit als auf die Oberflächenbeschaffenheit des
Felsens Rücksicht zu nehmen. Ist er zerklüftet und verwit-20
tert, weicht er dem Fuße und der Hand, so ist große Vor¬
sicht geboten, und sorgsam muß man an jedem einzelnen
Steine rütteln, um zu wissen, ob er auch halten wird. An
solchen Wänden, namentlich wenn sie in früher Morgenstunde
erklettert werden, pflegt es eisig kalt zu sein, und die an dem 25
Felsen herumtastenden Hände leiden alsdann durch heftigen
Schmerz. Es ist bekannt, bis zu welchem Grade die Kälte
jede kräftige Willensäußerung lähmt. Man stelle sich die Lage
des Wanderers vor, der, vor Frost zitternd, mit der Hand
den kalten Fels fassend, auf schmalem Vorsprung stehend, 30
tief unter sich den Abgrund sieht! Seine Sinne verwirren
sich, er weiß keinen Ausweg mehr, und wenn er dennoch
gerettet wird, so verdankt er es der Aufopferung seiner Ge¬
fährten. Solche Fälle sind vorgekommen; aber auch solche,
wo der Ausgang unglücklich war und wo menschliche Ver-35
zagtheit und menschliche Aufopferung ein gemeinsames Grab
in der Tiefe fanden.
Endlich befindet man sich an dem Felsrand, greift in den
darauf gelagerten Schnee und schwingt sich auf den Grat.
Wie aus einem Kerker befreit, blickt man frei und weit um 40
Liermann-Butzer. Lesebuch für Untersekunda, Aufl. b u. S. 17