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A. Epische Poesie. IX. Elegien.
25. Der Königssohn, zu wissen,
Ob Leben in dem Bild,
Tät seine Lippen schließen
An ihren Mund so mild.
Er hat es bald empfunden
Am Odem, süß und warm,
Und als sie ihn umwunden,
Noch schlummernd, mit dem Arm.
26. Sie streifte die goldnen Locken
Aus ihrem Angesicht;
Sie hob, so süß erschrocken,
Ihr blaues Augenlicht.
Und in den Nischen allen
Erwachen Ritter und Frau,
Die alten Lieder hallen
Im weiten Fürstenbau.
27. Ein Morgen, rot und golden,
Hat uns den Mai gebracht;
Da trat mit seiner Holden
Der Prinz aus Waldesnacht.
Es schreiten die alten Meister
In hehrem, stolzem Gang,
Wie riesenhafte Geister,
Mit fremdem Wundersang.
28. Die Täler, schlummertrunken,
Weckt der Gesänge Lust;
Wer einen Jugendfunken
Noch hegt in seiner Brust,
Der jubelt, tief gerühret:
„Dank dieser goldnen Früh,
Die uns zurückgeführet
Dich, deutsche Poesie!"
29. Die Alte sitzt noch immer
In ihrem Kämmerlein;
Das Dach zerfiel in Trümmer,
Der Regen drang herein;
Sie zieht noch kaum den Faden,
Gelähmt hat sie der Schlag;
Gott schenk' ihr Ruh' in Gnaden
Bis über den jüngsten Tag!
101. Die Freuden.
Von Johann Wolfgang Goethe. (1769.)
Es flattert um die Quelle
Die wechselnde Libelle —
Mich freut sie lange schon —
Bald dunkel und bald helle
Wie der Chamäleon;
Bald rot, bald blau,
Bald blau, bald grün;
O, daß ich in der Nähe
Doch ihre Farben sähe!
Sie schwirrt und schwebet, rastet nie.
Doch still, sie setzt sich an die Wei¬
den;
Da hab' ich sie ! Da hab' ich sie!
Und nun betracht' ich sie genau
Und seh' ein traurig-dunkles Blau —
So geht es dir, Zergliedrer beinei
Freuden!
IX. Elegien.
102. Der Wein.
Von Emanuel Geibel.
Heilig acht' ich den Wein, und immer, sobald er die Lippen
Herzerfreuend mir netzt, denk' ich des Lebens dabei.