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Liebe suchte er feine Widersacher zu gewinnen und ihnen aus der 
heiligen Schrift zu beweisen, daß Luthers Lehre in allen Stücken 
mit ihr übereinstimme. Am Sonntagmorgen predigte er über die 
Evangelien, am Nachmittage über die Episteln, und am Montag 
legte er die prophetischen Bücher aus, ein Fleiß, der ihm von den 
katholischen Priestern, die im Predigen minder eifrig waren, höchlich 
verübelt wurde. Er führte nach Luthers Vorgang den deutschen 
Kirchengesang ein und teilte Christi Einsetzung gemäß das heilige 
Abendmahl unter beiderlei Gestalt aus. 
In dichtgedrängten Massen scharte sich eine aufmerksame Ge¬ 
meinde, aus allen Teilen der Stadt zusammengeströmt, um den be¬ 
geisterten Propheten. Die Kirche wurde bald zu klein; er mußte vor 
derselben unter freiem Himmel predigen, und selbst die Mauern des 
Kirchhofs, ja die Zweige der großen Linde, in deren Schatten er 
seine Kanzel aufgestellt hatte, waren von andächtig Lauschenden besetzt. 
Immer leerer aber wurden die übrigen Kirchen der Stadt, und die 
Zorn- und Schimpfreden des aufs heftigste wider Luther und Slüter 
eifernden Dominikanermönchs Michael Rotstein, der die Flammen 
des Scheiterhaufens anzuzünden sich sehnte für alle Neuerer und 
Andersgläubige, verhallten fast angehört in der verödeten Johannis¬ 
kirche. Bald erkannten die Katholiken, daß die Predigt gegen den 
vermeintlichen Ketzer kein ausreichendes Mittel sei, und so schritten 
sie aufs neue zu Gewaltmaßregeln. Der Rat verbot zunächst den 
katholischen Schulmeistern, die verstorbenen Anhänger der neuen 
Lehre unter den gebräuchlichen kirchlichen Gesängen zu Grabe zu 
geleiten, wogegen Slüter aus Bürgern und Handwerksgesellen einen 
evangelischen Kirchenchor errichtete. Dann versuchte man, ihn ge¬ 
fangen zu nehmen, und nur der Mut seiner Freunde, welche ihren 
teuren Seelsorger mit Gewalt den Händen der städtischen Büttel 
entrissen, verhinderte seine räuberische Entführung. Lästerreden, 
Spottlieder, heimliche Nachstellungen verfolgten ihn unaufhörlich. Ein 
junger Priester nahm in seinem Übereifer Anstoß an der Inschrift: 
„Gottes Wort bleibet in Ewigkeit", welche Slüter über seiner Haus¬ 
thür angebracht hatte, und verlöschte sie mittels eines Teerquastes; 
als aber der Übelthäter plötzlich erblindete, sah man dies allgemein 
als ein Gottesgericht an und verehrte den „Magister" nur um 
so mehr. 
Da die bisherigen Angriffe gegen den treuen Glaubenszeugen 
erfolglos geblieben waren, schritt man zur List und versuchte, ihn zu 
vergiften. Die Mönche des Franziskanerklosters luden ihn zu einem 
Gastmahl ein. Arglos erschien er zur rechten Zeit. Als er aber 
durch die Küche ging, sagte ihm ein armes Mädchen, das beim 
Bratenwenden angestellt war: „Lieber Herr Joachim, esset nicht von 
diesem Braten; es ist Gift daran." Slüter beurlaubte sich also von 
den Mönchen unter dem Vorwände, er habe vergessen, den Schlüssel 
zu seinem Zimmer abzuziehen, was ihm sehr unlieb wäre, und 
kam nicht wieder.
	        
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