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schwand. Am Tage vor seinem Tode hatte die zweitjüngste Tochter des Kaisers
ihren Geburtstag. Als sie zu ihm kam, um sich den Glückwunsch des geliebten
Vaters zu holen, schrieb er ihr ins Stammbuch: „Bleibe fromm und gut, wie
du bisher warst; das ist der letzte Wunsch deines sterbenden Vaters.“ Die Kräfte
des Kaisers sanken von Stunde zu Stunde, und am Vormittage des 15. Juni
fand der königliche Dulder endlich Erlösung von seinem furchtbaren Leiden. 3 Tage
später wurde seine Leiche in der Friedenskirche zu Potsdam beigesetzt — Ganz
Deutschland beweinte den Tod seines Lieblings. Nur kurze Zeit — 99 Tage
— hat sein Haupt im Glanze der Königskrone gestrahlt.
60. Wilhelm II.
(Seit dem 15. Juni 1888 Deutscher Kaiser.)
1. Erste Jugend. Unser Kaiser Wilhelm wurde am 27. Januar 1859
geboren. Sein Vater, Kaiser Friedrich III. war damals noch Kronprinz. In
seinem 7. Jahre erhielt der Prinz den ersten Turnunterricht. Auf einem Platze
neben dem Schlosse wurden Turngeräte, eine Scheibe zum Schießen und ein
Mastbaum mit den dazu gehbrigen Tauen aufgestellt. Stundenlang tummelte sich
hier der Prinz mit seinem jüngeren Bruder Heinrich lustig umher. Dieser zeigte
schon damals seine Vorliebe für die Marine und kletterte am liebsten in den
Strickleitern und auf den Segelstangen umher, während Prinz Wilhelm gern
Schanzen und Laufgräben baute.
Zuweilen luden sich die Prinzen auch die Zöglinge des Militär⸗Waisenhauses zum
„Kriegspielen“ ein. Die Fahne schwingend, erstürmte dann Prinz Wilhelm mit einem
Teile der Knaben die Schanzen, die von seinem Bruder Heinrich und dessen Spielgenossen
verteidigt wurden. Doch nicht eher ruhte Prinz Wilhelm, als bis er als Sieger die Fahne
auf der feindlichen Schanze aufpflanzen konnte.
2. Auf der Schule. Prinz Wilhelm sollte nach dem Wunsche seiner Eltern
schlicht und einfach erzogen werden. Darum erhielt er von vornherein Spiel⸗
genossen aus allen Ständen: Dorf- und Stadtkinder, wie es gerade kam. Auch
sollte er deshalb wie andere Kinder eine öffentliche Schule besuchen und wie
andere Schüler lernen. Nachdem er im Herbste 1874 konfirmiert worden war,
brachten ihn seine Eltern selbst auf das Gymnasium nach Kassel. Im Fürsten—
hause, einem kleinen Schlosse neben dem Gymnasium, hatte der Prinz während
des Winters seine Wohnung. Jeden Morgen erschien er mit den Büchern unter
dem Arme im Gymnasium und nahm seinen Platz auf der Schulbank ein. Auch
in seiner Kleidung unterschied er sich in nichts von seinen Mitschülern. Wie diese
trug auch er die vorgeschriebene Klassenmütze.
Gegen seine Mitschüler war er stets freundlich und gefällig. Zu seinen Genossen
suchte er sich nie die Vornehmsten, sondern stets die Besten und Fleißigsten aus. Wenn
die Reihe des Klassenschülers an ihn kam, dann übernahm er die Dienste desselben mit
der größten Bereitwilligkeit. Er spitzte die Kreide, wusch den Schwamm am Brunnen
aus, reinigte sorgfältig die Wandtafel ꝛc. Im Winter warf er auch wohl einmal einen
seiner Mitschüler neckend mit einem Schneeballe und freute sich, wenn dieser den Wurf er—
widerte und sich dann daraus eine tüchtige Schneeballschlacht entspann. Im Sommer
wohnte der Prinz auf dem etwa 2 Stunden von der Stadt entfernten Lustschlosse Wilhelms⸗
höhen Den Weg bis zur Schule legte er dann zu Pferde zurück.
Seine Lehrer waren angewiesen, mit dem Prinzen gar keine Ausnahme zu
machen. Sie nannten ihn „Prinz Wilhelm“ und „Sie“ (nicht: Königliche Hoheit).