Full text: Die Hohenzollern von Kaiser Wilhelm II. bis zum Großen Kurfürsten (Teil 1)

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denn Kummer und Elend, Not und Sorge verstecken sich oft. Es giebt 
Leute, die es nicht wissen lassen oder nicht sehen lassen wollen, daß sie 
bedürftig oder daß sie sonst von Leid gedrückt sind. Manchmal auch springt 
einem, wie man zu sagen pflegt, das Unglück ins Auge. Trotzdem aber 
wird manch einer dennoch getäuscht. Hinter dem demütigen, sorgenvollen, 
vergrämten Gesichte kann auch manchmal ein recht böses, lügnerisches Innere 
wohnen. Ein besonderer Scharsblick gehört also doch auch hier dazu, um 
gleich das Wahre vom Falschen, das Gute vom Schlechten auszusondern 
und aufzufinden. Die Mühe darf man sich nicht verdrießen lassen. 
Kronprinz Friedrich Wilhelm hatte einen solchen Scharfblick, und er 
half stets an der rechten Stelle und zur rechten Zeit. 
Das sehen wir an folgender Erzählung. 
1. Teilziel: Der Kronprinz als Schullehrer. 
II. Stufe. 
a. Das ist eine merkwürdige Geschichte. Denn daß der hohe Herr 
manchmal mit seinen eigenen Kindern Schule gehalten haben könnte, das 
vermöchtet ihr euch wohl zu denken. Daß er aber einmal so wie euer 
Lehrer eine ganze Schule voll Bauernbuben und -mädchen unterrichtete, 
wie mag das zugegangen sein? Nun, davon war unter eigentümlichen 
Umständen des Kronprinzen gutes Herz die Ursache. 
Es hatte nämlich der nun hochselige Herr ehedem zwei große Land¬ 
güter, Namens Bornstedt und Eiche. Die besuchte er alljährlich mehrmals 
und freute sich, wenn dort alles gedieh, das Getreide und die Kartoffeln auf 
dem Felde, das Vieh ixt den Ställen und — die Schuljugend in der Zucht 
und im Lernen. Wenn er so selbst einmal zusah, wie's stand, bann kam er 
immer unverhofft; es sollte sich niemand in seiner Arbeit durch ihn stören 
lassen. Denn hätte man's gewußt, daß er erschien, dann würde sich alles 
ausgemacht haben, um ihn mit Hoch und Hurra einzuholen, und dann 
wär's dem Kronprinzen kein besonderer Spaß gewesen, weil er so etwas 
schon zu sehr gewohnt war. 
b. So erschien er denn auch einmal in Bornstedt ganz unverhofft 
in der ersten Klasse der Schule. Es war da nämlich ein neuer Lehrer 
angekommen, und der Kronprinz wollte ihn kennen lernen und einmal 
sehen, wie er unterrichtete. Wer nun ein rechter Lehrer ist und was brave 
und fleißige Kinder sind, die lassen sich nicht verblüffen, wenn mit einem 
Male ein fremder Gast, unb sei er auch ein noch so hoher Herr, ins 
Schulzimmer tritt. Also ging auch hier der Unterricht feinen Gang ruhig 
weiter, und der Kronprinz freute sich über die munteren Gesichter ber 
Kinber unb über ihr schönes und kluges Sprechen. 
Da — es hatte eben der Unterricht in der Geschichte angefangen 
— klopft es plötzlich an die Thüre. Ärgerlich über die Störung geht 
der Lehrer hinaus unb kommt gleich barauf zurück. So sehr er sich be¬ 
herrscht — bes Kronprinzen Scharfblick bemerkt, baß er eine schlimme
	        
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