Full text: Lesebuch für Fortbildungsschulen

94 
dann immer näher und näher und heller und heller: „Kamerad, bist 
du noch da?“ bis er zuletzt an mich gekommen ist, und ich habe 
den Ruf weiter geschickt: „Bruder, bist du noch da?“ Reiner sieht 
den andern, keiner verläht seinen Posten, aber man ruft einander 
den hellen ermunternden Grußb zu. Das ist schön. Eine Rette von 
freundlichen Worten, Glied an Glied, schliebt die deutschen Brüder 
aneinander, die weit auseinander stehen. Alle sind wach und stehen 
da für das Vaterland. Und ich habe mir da ganz Deutschland ge- 
dacht, und von einer Grenze bis zur andern stehen sie da und rufen 
einander zu: „Bruder, bist du noch da?“ Vater, lieber Vater! da 
ist mir's warm ums Herz geworden, ich kann's nicht sagen, wie. 
Und ich habe mein Gewehr mit beiden Händen hoch hinauf gehoben 
und habe Gott gebeten, er soll mir's einmal für eine rechtschaffene 
heilige Sache wieder in die Hand geben. 
Die zwei Stunden sind mir herumgegangen wie ein Augenblick, 
und so ost der Ruf an mich gekommen ist, habe ich ihn immer 
sfreudiger hinausgerufen. Dazwischen habe ich das Lied in mich 
hineingesungen: 
Steh' ich in sinstrer Mitternacht 
s0 einsam auf der stillen Wacht. 
Es ist mir keines von den gelernten Liedern eingefallen. Wenn 
man so ein Lied auch nur leise vor sich hinsingt, ist es doch gerade, 
als ob man mit einem guten Geist sprãche. 
Grũhet alle guten Freunde und Bekannte von Eurem 
getreuen Lorenz. 
43. Untreue schlägt den eigenen Herrn. 
Als in dem Kriege zwischen Frankreich und Preußen ein Teil der 
französischen Armee in Schlesien einrückte, waren auch Truppen vom 
rheinischen Bundesheer dabei, und ein bayerischer oder württembergischer 
Offizier wurde zu einem Edelmanne einquartiert und bekam eine Stube 
zur Wohnung, wo viele sehr schöne und kostbare Gemälde hingen. Der 
Offizier schien recht große Freude daran zu haben, und als er etliche 
Tage bei diesem Manne gewesen und freundlich behandelt worden war, 
verlangte er einmal von seinem Hauswirt, daß er ihm eines von diesen 
Gemälden zum Andenken schenken möchte. Der Hauswirt sagte, daß er 
das mit Vergnügen thun wollte, und stellte seinem Gaste frei, dasjenige 
selber zu wählen, welches ihm die größte Freude bereiten könnte.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.