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ist noch immer viel und zuverlässig, und um so wertvoller, als wir
es nur aus ihrem Werke schöpfen können. Deshalb weiß es jeder
Geschichtsschreiber wohl zu schätzen.
So weit auch der Abstand zwischen ihrer und der jetzigen Zeit
ist, fast ebenso weit, davon geben uns Rosvithas Werke ein deutliches
Zeugnis, ist der Abstand zwischen der damaligen Sitte und Bildung
und der jetzigen. Ich meine damit nicht bloß, daß jene Klosterwelt,
in der Rosvitha lebte, für uns untergegangen ist; der Abstand .liegt
auch nicht bloß darin, daß die Wissenschaft jetzt einen unendlich
reicheren Inhalt gewonnen hat, sondern es ist vor allem dies: Rosvithas
Werke zeigen uns, wie ihr Zeitalter noch auf der Grenze des Heiden¬
tums streift. Man muß das wohl erwägen, um manches sonst Un¬
begreifliche in ihren Dichtungen zu erklären und einen Wegmesser
zu haben für die lange Bahn, welche seitdem Christentum und Kultur
zurückgelegt haben.
3. Unsere Volksmärchen. Bon Jakob Loewenberg.
/Hl s war einmal — doch nein, es klingt zwar wie ein Märchen, aber
es ist eine geschichtliche Tatsache, daß einst zwei grundgelehrte
deutsche Sprachforscher von Dorf zu Dorf zogen, um von alten Frauen
und Männern, aus dem Munde der Einfältigen und Schlichten, uralte
Lebensweisheit und ewig junge Poesie zu hören: Jakob und Wilhelm
Grimm, die Sammler unserer Märchen. Freilich, sie waren nicht nur
Gelehrte, in ihnen schlummerte auch eine Dichtergabe. Mit der Wün¬
schelrute eines tiefspürenden, feinempfindenden Dichtersinns gingen sie
umher in dem Reiche, in dem sie unbeschränkte Herrscher waren, in
dem Reiche deutscher Sprache, Sitte und Sage. Und überall wo die
Wünschelrute anschlug, da legten sie reine Goldadern und lebendige
Brunnen zutage. Bis zu ihrer Zeit war das Märchen selber ein Aschen¬
puttel gewesen, das, von den feinen Kindern des Landes verhöhnt
uni) verachtet, in dem Herdwinkel saß, bis der rechte Prinz kam und
trotz des grauen Kittels das holde Kind entdeckte.
In ihren: bescheidenen Sinn empfanden die beiden Brüder es als
eine Gunst, solch glückliche Finder gewesen zu sein. „Tragen wir
einen Dank davon für alle Mühe und Sorge, der uns selbst zu über¬
dauern vermag," sagt Jakob, „so ist es der für die Sammlung der
Märchen."
Schon im Jahre 1806 hatten die Brüder Grimm zu sammeln
begonnen, zu einer Zeit, wo Deutschland zerrissen und zertreten war,
wo aber auch das deutsche Volksgemüt sich auf sich selber besann,
emsig suchend, was ihm denn aus alter Zeit geblieben sei, um neue