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4. Grossmutter spricht: „Morgep ist’s Feiertag,
Grossmutter hat keinen Feiertag,
Sie kochet das Mahl, sie spinnet das Heid,
Das Leben ist Sorg' und viel Arbeit;
"Wohl dem, der that, was er sollt'!“ —
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?
5. Urahne spricht: „Morgen ist’s Feiertag,
Am liebsten morgen ich sterben mag;
Ich kann nicht singen und scherzen mehr,
Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer,
Was thu’ ich noch auf der Welt?“ —
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?
6. Sie kören’s nicht, sie sehen’s nieht,
Es flammet die Stube wie lauter Licht;
Urahne, Grossmutter, Mutter und Kind
Vom Strahl mit einander getroffen sind,
Vier Leben endet ein Schlag —
Und morgen ist’s Feiertag. G. Schwab.
171. Räthsel.
1. Von Perlen baut sich eine Brücke hoch über einen grauen See; sie
baut sich auf im Augenblicke, und schwindelnd steigt sie in die Höh'.
2. Der höchsten Schiffe höchste Masten zieh'n unter ihrem Bogen hin; sie
selber trug noch keine Lasten und scheint, wie du ihr nahst, zu flieh'n.
3. Sie wird erst mit dem Strom und schwindet, so wie des Wassers Fluth
versiegt. So sprich, wo sich die Brücke findet und wer sie künstlich hat gefügt.
Schiller.
172. Der Bote im Jumus.
Aber die Lenzgestalt der Natur ist doch wunderschön! Wenn der
Dornstrauch blüht, und die Erde mit Gras und Blumen pranget!
So ein Heller Dezembertag ist auch wohl schön und dankenswerth, wenn
Berg und Thal in Schnee gekleidet sind, und uns Boten in der
Morgenstuude der Bart reift; aber die Lenzgestalt der Natur ist doch
wunderschön! Und der Wald hat Blätter, und der Vogel singt, und
die Saat schießt Aehren, und dort hängt die Wolke mit dem Bogen
vom Himmel, und der fruchtbare Regen rauschet herab!
Wach' auf, mein Herz, und singe
Dem Schöpfer aller Dinge —
es ist, als ob Er vorüber wandle, und die Natur habe Sein Kommen
von ferne gefühlt und stehe bescheiden am Wege in ihrem Feierkleide und
frohlocke! Claudius.
173. Die Fülle des Sommers.
Kaum, daß man ein Blatt findet, das nicht zahlreich bewohnt
wäre! kaum, daß wir einen Schritt thun können, ohne Lebendiges vor
unsern Füßen wahrzunehmen! Wolken von kleinem Geflügel spielen
im Sonnenschein! Nirgends, nirgends, o Mensch, bist du in dieser
Zeit allein! Es wühlt unter deinem Sitze, es zirpt dir zur Seite,
es schwebt über deinem Haupte, es singt hinter dir, es flattert vor
dir; überall ist des Lebendigen Fülle in dieser Sommerzeit. Es sind
Wesen, die mit sein wollen auf dieser Erde nach ihres Schöpfers