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Sonne die Blätter, es wurde dunkel im Palaste, und endlich erinnerte
sich unser Sommervogel, daß es Zeit zum Abschiede sei. Aber es
war zu spät, die Tulpe hatte sich schon ganz geschlossen, und der kleine
Näscher war gefangen. Vergebens klopfte er mit den Flügeln an die
Wände seines schönen Kerkers; Niemand öffnete ihm; die Blume blieb
still und ruhig und unser Schmetterling mußte sich in sein Schicksal
fügen. Ach wie lange dauerte ihm die kurze Frühlingsnacht! Wenn
ein Käfer vorbeischwirrte oder ein Nachtfalter, wurde er um so unge¬
duldiger und fing an, heftiger zu klopfen; aber Niemand erlös'te ihn.
Nun wollte ihm kein Blüthensaft schmecken, und er seufzte nur immer:
Ach, wäre ich doch draußen Lei meinen übrigen Gespielen.
Als nun am andern Morgen die Sonne wieder aufging und es
hell wurde, da begann auch die Tulpe allmählig ihren Kelch zu öffnen,
und durch das kleine Fensterchen konnte die Sonne wieder hineinblinzeln
und den armen Gefangenen aus seinem unruhigen Schlummer erwecken.
Ach, wie freute er sich! Eilends kroch er bis zur kleinen Luke; aber
noch war sie zu eng, und er konnte nur die Fühlhörner Hinausstrecken
und sich an dem frischen Morgenwinde laben. Mittlerweile stieg jedoch
die Sonne immer höher, und das Fensterchen wurde bald so weit,
daß unser Schmetterling schon Hinausschauen konnte.
Aber er zog schnell das Köpfchen zurück, denn dicht neben seinem
Gefängniffe stand Agnes, des Gärtners kleine Tochter, welche beschäf¬
tigt war, einen Blumenstrauß zu pflücken. Sie bückte sich näher zur
Tulpe, betrachtete sie mit freudigem Blicke und bemerkte durch die kleine
Äffnung alsbald auch unsern Schmetterling. Nein, sagte sie, das
ist doch niedlich, das muß mein Bruder sehen! Mit diesen Worten
war auch die Tulpe geknickt und zu den anderen Blumen gestellt.
Wie erschrack unser Schmetterling! Ach, seufzte er, wie wird mir's
nun gehen; jetzt bin ich gar aus dem Regen in die Traufe
gekommen!
Agnes eilte mit ihrem Strauße in's Haus zum Bruder und rief:
Siehe nur her! Hast du schon ein schöneres Vogelbauer und ein nied¬
licheres Vögelchen erblickt? Der Bruder schaute in die Tulpe hinein,
lachte laut und sprach: Ei, das ist ja allerliebst! Ich werde den kleinen
Schelm erlösen, mit einer Stecknadel durchstechen und aufspannen. Er
soll meineSchmetterlingssammlung vermehren! Ach, wie erschrack da
der Gefangene! Sein Herzchen klopfte laut und er konnte vor großer
Angst nicht einmal mehr hin und her zappeln, sondern saß still auf
dem Boden des Gefängnisses. Agnes aber sprach: Nein, Brüderchen,
das leide ich nimmermehr; du sollst das arme Thierchen nicht so
quälen. Wer weiß, wie lange es schon gefangen sitzt; ich will es
lieber erlösen und ihm die Freiheit schenken. Mit diesen Worten
sprang sie ans offene Fenster, erlös'te schnell den halbtodten Gefangenen
mfb sagte voll Freude zu ihrem Bruder: Siehst du, nun ist der kleine
Schelm wieder frei und wird nicht von dir gespießt.