Full text: Das Vaterland (4 = 5. u. 6. Schulj)

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Wiesen und Feldern für sie bereit lag. Wir wußten wohl, was ihr 
Abzug bedeutete, nämlich des Sommers Ablauf und des Winters baldige 
Annäherung. Sie ließen sich nicht verlocken. Ihr Schöpfer hatte 
ihnen den Trieb nach einem wärmeren Lande eingepflanzt und ihrem 
Leibe Flügel gegeben, dasselbe ferne Land zu erreichen. Sie flogen 
davon und sahen den allgemeinen Tod nicht, sahen ihren eigenen Tod 
nicht. Viele tausend Geschöpfe ihrer eigenen und anderer Art, die 
ihnen nicht folgen konnten, gruben sich verborgen ihr Grab und legten 
sich selbst hinein, schweigend erwartend, ob Gott sie wieder erwecken 
werde aus dem langen Winterschlafe. Denn allmählich fing auch die 
Erde an zu altern, die Mutter der Lebendigen. Die grüne Farbe 
ward blässer, die gelbe Saat brachte der Ackersmann in seine Scheunen, 
täglich ward die Stoppel weißer. Zuletzt suchte das Vieh auch seinen 
Stall wieder, das draußen nicht mehr dem Froste und dem Hunger 
widerstehen konnte. Länger ward die Nacht als der Tag und immer 
dunkler. Des Lichtes und der Wärme beraubt, fiel das Laub von den 
Bäumen, ein Spiel der Winde. Heftiger wehten die Winde und schlugen 
Wellen. Der Himmel war nicht freundlich mehr, darum trauerte die 
Erde. Alle Gewächse hatte sie verloren, ihre liebsten Kinder; sie war 
allein noch und starb auch. „Stirbst du, so will ich dir ein Sterbe- 
kleid anziehen", und er bedeckte die Erde mit dem schönsten Weiß, mit 
seinem reinen Schnee. Der Sperling, der fast allein, sah es an; er 
verließ nun auch die Erde, die ihm kein Körnchen mehr geben konnte, 
und suchte die Wohnung der Menschen. Wir aber blickten hinaus in 
die öde, stille, totenstille Natur und fragten uns: „Werden wir den 
Frühling erleben?" Manchen Bruder und manche Schwester mußten 
wir in die harte Erde begraben. Uns leuchtet noch der Augen Licht; 
wir sehen mit gefühlvollem Blicke den Frühling an, der da ist ein 
Lebengeber der ganzen Natur. 
2. Überall ist Leben, junges, frisches, fröhliches Leben, zwar nach 
einem Kampfe, der mehrere Wochen gedauert hat. Der kalte Ost wider¬ 
stand lange dem sanften West. Doch die Vögel waren gewiß, daß 
dieser bald siegen würde; daher sang die Lerche längst ihren Jubel, 
daher kam der Storch in die Armut unserer Gegend, wohl wissend, 
wie reich sie bald sein würde, und unsere Kinder wurden von schwachen 
Sonnenstrahlen auf ihre Sitzplätze gelockt, in ihrem Blute fühlend, daß 
der Frühling käme. Nun ist er da. Der schwere Kampf zwischen 
Leben und Tod ist ausgekämpft. Alles lebt, die ganze Natur lebt 
wieder. Seht hinaus! Die Erde trägt Grün; täglich wächst die junge 
Saat höher; immer dichter wird das Gras; das Leben kocht in den 
Pflanzen und Bäumen; jeden Morgen hat sich eine neue Blume anfgethan; 
jeden Morgen haben sich neue Blüten entfaltet; Millionen liegen an 
den Brüsten der Natur und saugen Leben ein; Millionen, unzählige 
Millionen Pflanzen und Samenkörner werden von Gärtners und 
Landmaünes Händen ihr an die Brust gelegt, daß sie denselben Milch 
und Leben gebe, mit zu schmücken den Garten, mit zu zieren das Feld,
	        
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