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Kirche besteht darin, daß diese großen, schweren Massen, mit breiten
Unterlagen, mit Leichtigkeit zum Himmel streben, so daß das Ganze eher
wie gewachsen, denn wie gebaut aussieht. Dabei ist jedes Einzelne
zierlich und sleißig gearbeitet und das Ganze leicht und durchsichtig auf¬
gebaut. Die Säulen, welche das Dachgewölbe tragen, fahren oben wie
Baumäste auseinander, daß man die daraus ruhende Last nicht gewahr
wird; die Fenster sind mit Spitzbogen geziert, die glatten Wände durch
Nischen (Vertiefungen) und hervorstehende Mauerpseiler unterbrochen.
Die Thürme steigen, mit Ranken, Röhren und Knospen geschmückt, als
große Blumen endigend, leicht in die Luft. Es ist durch die Kunst ein
wunderbares Leben und Bewegen in den starren, kalten Stein gekommen
und verbindet sich eine Tiefe und Fülle des Gefühls damit und eine
Erhebung des Geistes, die man nur fassen kann, wenn man ein solches
Meisterwerk deutschen Sinnes und deutscher Kunst länger und öfter zu
betrachten Gelegenheit hatte. Wir treten durch den Haupteingang in das
Heiligthum, welches ernst und feierlich seine Räume vor uns aufthut —
ein Gotteshaus. Die Grundform ist das Kreuz, das Fundament und
der Mittelpunkt des christlichen Glaubens, auf dem alles beruht unb erbaut
ist. Da, wo die beiden Theile des Kreuzes sich durchschneiden, erhebt
sich ein Thurm und eine Kuppel (gewölbtes Dach), um die Stelle anzu¬
deuten, wo das Herz dessen geschlagen hat und im Tode gebrochen ist,
der für uns alle sein Leben dahingegeben hat. Am Chor (das immer
nach Osten liegt) ruhte sein dornengekröntes Haupt. Hierher mußte der
Baumeister alle Kunst und Aufmerksamkeit wenden. Das Chor ist oft
mit gemalten Fenstern geschmückt, durch die das Tageslicht in ungewissen
Farben bricht. Die kreisförmig im Chor stehenden kleinen Kapellen, jede
mit Säulchen und Zieraten geschmückt, bilden gleichsam einen Kranz
von Rosenknospen um das Haupt des Erlösers. Dem Chore gegenüber,
wie zu den Füßen des Heilands, ist der Haupteingang (Portal), der auf
jeder Seite mit einem Thurme geziert ist. Die schönsten Münster in
Deutschland sind zu Straßburg, Köln, Ulm, Freiburg im Breisgau und
Wien. Im Münster zu Straßburg ist auch eine Uhr, welche im Jahre
1571 mit großer Kunst verfertigt wurde. Sie zeigt, außer den Stunden
und Wochentagen, den Lauf der Planeten, den Auf- und Untergang des
Mondes. Die vier Stundenviertel werden auf vier verschiedenen Glocken
geschlagen; das erste Viertel schlägt die Figur eines Knaben, das zweite
ein Jüngling, das dritte ein Mann und das vierte ein Greis. Inzwischen
erscheint der Tod, der die Stunde ausschlagen will; er wird aber so lange
vom Heiland zurückgehalten, bis vier Viertel zu Ende geschlagen haben.
Um 3, 7 und 11 Uhr ertönt ein Glockenspiel, welches aus Weihnachten,
Ostern und Pfingsten ein Danklied spielt. Jedesmal, wenn ein solckies
Musikstück ausgeklungeu hat, streckt ein Hahn auf der Spitze des Thürm-
chens den Hals aus, schüttelt die Flügel und kräht zweimal. Es geht
die Sage, der Künstler habe vorgehabt, in einer anderen Stadt eine
ähnliche Uhr zu bauen; aber der Rath, um der Stadt den alleinigen
Ruhm dieses Kunstwerks zu erhalten, ließ jenen einsperren und ihm die
Augen ansstechen. Er bat, man möge ihn noch einmal aus seinem Kerker
zu der Uhr führen, er habe etwas daran zu ändern; nun bog und häm-