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bei seinem Knäuel von innen anfängt und nach außen wickelt, die Raupe
aber die äußeren Fäden zuerst spinnt und dann erst die inneren. Sie
spinnt so 3 bis 4 Tage und bereitet, ohne den Faden einmal abzureißen^
einen länglich runden Ball. Dieser Ball führt den Namen Coeon
und ist von weißer oder gelber Farbe. Der Faden, aus dem der Cocon ge¬
woben wird, zählt 300 Meter Länge. Ganz im Innern läßt die Raupe
einen leeren Raum, ein Kämmerchen. Hier liegt sie nach vollbrachtem
Werke müde und matt. Sechs Wochen hat sie gefressen, viermal
das Kleid gewechselt und nun 3 Tage im Tanze sich gedreht, um
den prächtigen Seidenfaden zu spinnen. Nun ist sie schläfrig. Zum
letzten Male streift sie den Arbeitsrock ab, aber mit ihm auch die sechzehn
Beine, die beiden Angen und die beiden Zähne; denn die Raupe hat
nichts mehr zu laufen, nichts mehr zu sehen im finsteren Kämmerlein
und nichts mehr zu beißen. So legte sie Haut und Haare, Augen, Füße
und Zähne auf ein Häufchen, wie der Arbeiter am Feierabend das Hand¬
werkszeug und seine schmutzigen Kleider ablegt. Die Raupe, welche sich
nun in eine Puppe verwandelt hat, scheint gestorben. Finster ist es um
sie her, kein Lüftchen dringt zu ihr, sie liegt im Sarge und regt sich nicht.
Und doch ist sie gerade jetzt besonders fleißig und bringt das Schönste
hervor, was sie hervorzubringen vermag. Unter der harten Schale deu
Puppe ordnen sich in der Zeit von 14 Tagen die Theile der Puppe in
angenehmster Weise. Die Hülle springt, und ein Schmetterling schlüpft
aus. Zwei helle Augen stehen ihm am Kopfe, ein weißes Pelzwams
umhüllt seinen Leib, und vier Flügel machen es ihm möglich, durch die
Luft zu flattern, außerdem besitzt er sechs Beine, die ihm zum Laufen
und Sitzen dienen.
Wie kommt er aber aus seinem Kerker heraus? Er müßte rettungs¬
los darin umkommen, wenn ihm nicht der weise Schöpfer am Munde
ein Bläschen mit einer scharfen Säure geschaffen hätte, durch die er¬
den Seidencocon erweicht, ein Loch gewinnt und durch dasselbe sich
hindurchzwängt. Durch dies Loch wird aber der Seidenfaden zerrissen
und unbrauchbar. Man gestattet daher nur den Schmetterlingen das
Ausschlüpfen, welche zum Eierlegen bestimmt sind. Ein Schmetterlings¬
weibchen legt 400 bis 500 Eier. In heißen Gegenden, wo die Seiden¬
raupe zu Hause ist und im Freien lebt, heftet der Schmetterling die
Eier an die Zweige der Maulbeerbäume, gerade wie unsere einheimischen
Schmetterlinge es thun; bei uns in den Seidenbau-Anstalten (Stuben^
in denen die Raupen gefüttert werden) läßt man den Schmetterling die
Eier auf ein Stück weicher Leinwand legen und bewahrt sie an einem
kühlen und trockenen Orte bis zum nächsten Frühlinge auf, um dann
wieder kleine Räupchen ausschlüpfen zu lassen. —
Die meisten Cocons aber, welche man der Seide wegen benutzt,
werden durch heiße Wasserdämpfe oder durch Ofenhitze zehn Minuten lang
erhitzt, um die innewohnende Puppe zu tödten.
Man wickelt nun mittelst eines Haspels die in warmem Wasser er¬
weichten Cocons ab, doppelt die Fäden nach Belieben, färbt die Seide
mit allerlei Farben und webt dann aus derselben schöne seidene Kleider¬
stoffe, Tücher und Bänder. H. Wagner.