Full text: Das Vaterland (Schulj. 5 und 6)

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durchläuft er nun die Menge der fremden Gäste, umherschauend, ob 
er nicht bei irgend jemand das geraubte Kleinod entdecken möchte. 
Nach langem Suchen trifft er endlich einen wohlgekleideten jungen 
Mann, der wirklich die vermißte Blume im Knopfloche trägt. Der 
tiefgekränkte Hofgärtner macht ihm die bittersten Vorwürfe, nimmt 
ihn mit in seine Wohnung und läßt sich in Gegenwart dreier Zeugen 
Namen, Stand und Wohnort des Mannes angeben, um sich damit 
vor dem Könige rechtfertigen zu können. 
Tags darauf kommt der König, und wie gewöhnlich fragt er: 
„Was macht meine liebe Charlotte?" Mit Thränen in den Augen 
erzählte der Gärtner, was vorgefallen war. Der König wurde un¬ 
willig; doch blieb er ruhig und gelassen und sagte nur, wie unrecht 
es fei, ihm diese kleine Freude zu verderben. Der Hofgärtner aber 
bemerkte: „Wenn Eure Majestät dem Publikum den Besuch der 
Pfaueninsel nicht verbieten, so wird das nie aufhören." — „Was kann 
denn das Publikum dafür, wenn unter Tausenden ein Ungezogener 
ist?" entgegnete der gütige Fürst. „Die Insel ist ja nicht für mich 
allein da; ich kann nur selten hier sein; wozu denn alle diese Schön¬ 
heiten, namentlich die schnell verblühenden Blumen, wenn außer mir 
niemand seine Freude daran haben soll!" Als nun der Beamte den 
Namen des Thäters nennen wollte, fiel der König abwehrend ein: 
„Nein, nein, ich will den Namen gar nicht wissen; der könnte mir 
wieder einfallen, wenn der Mann später einmal etwas zu bitten haben 
sollte. Vergeben, vergessen!" Nach Eylert. 
75. Französische Einquartierung. 
Mein Großvater erzählte uns aus seiner Jugendzeit folgende 
Geschichte: Es war nach der unglücklichen Schlacht bei Jena. Das 
preußische Vaterland wurde von feindlichen Heeren überschwemmt. 
Auch unser Dorf hatte viel durch französische Einquartierung zu 
leiden; denn es liegt, wie ihr wißt, in der Nähe eines Oderüber¬ 
ganges. Wenn eine Abteilung feindlicher Krieger abmarschierte, so 
rückte gewöhnlich bald eine andere in die verlassenen Quartiere ein. 
Und wie wirtschafteten die übermütigen Soldaten! Was verlangten 
sie nicht alles! Unser schönes Schwarzbrot, das die Leute aus der 
Stadt so gerne essen, behagte ihnen nicht. Sie sagten: „Das ist gut 
für die Pferde!" und verlangten Weißbrot. Unsere gute Mutter 
wußte oft nicht, wo ihr der Kopf stand, wenn die ungebetenen Gäste 
dies und jenes und immer noch mehr haben wollten. Der Vater 
war nicht selten in größter Verzweiflung, wie er Mehl und Fleisch 
und andere Lebensmittel heranschaffen sollte. Der Kaffee war da¬ 
mals sehr teuer, und wir hatten lange keinen mehr zu kosten be¬ 
kommen; aber die Franzosen wollten Kaffee trinken, obgleich Vater 
und Mutter ihnen begreiflich zu machen suchten, daß es weit und 
breit keinen zu kaufen gäbe. Erhielten sie dann nicht, was sie for-
	        
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