Full text: Das Vaterland (Schulj. 5 und 6)

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Wien hat großartige Bauwerke. Zu ihnen zählt der Stephans¬ 
dom. Er ist aus gewaltigen Sandsteinquadern aufgetürmt. Ein 
Riesenthor von 11 m Höhe und 9 m Breite führt in das Heilig¬ 
tum. Die Decke wird von hochaufragenden Pfeilern getragen, die 
oben ihre Bogen und Gewölbrippen fächerartig ausbreiten und so eine 
mächtige Halle bilden. Zwischen den Pfeilern strömt das Licht durch 
große Fenster ein, die sich gleichfalls in hohe Bogen zuspitzen und 
mit mancherlei Figuren geziert sind. Herrliche Bildsäulen schmücken 
das Gotteshaus. Die Gestalten der Apostel und anderer frommen 
Männer schauen von schlanken Pfeilern oder hohen Simsen nieder 
auf die andächtige Menge. Der ganze Bau wird durch einen gro߬ 
artigen Turm gekrönt, der sich gegen 140 m hoch in die Lüfte erhebt. 
Wie eine gewaltige Tanne steigt dieser Turm empor. An Stelle der 
Äste trägt er eine Menge Zacken und Spitzen an den Seiten. Er 
ist von schönen Verzierungen durchbrochen, von Blumengewinden aus 
Stein umschlungen und mit allerlei Bildwerk und Wappen geschmückt. 
Auf ihm hängt eine Glocke, die weit über 350 Zentner (18000 kg) 
wiegt. Sie ist aus eroberten türkischen Kanonen gegossen worden. 
16 Männer sind nötig, um sie in Bewegung zu setzen, und stunden¬ 
weit hört man ihren Klang. 
Wer das eigenartige Volksleben Wiens kennen lernen will, der 
braucht nur in den Prater zu gehen. Das ist ein ungeheurer Lust¬ 
garten, der herrliche Wiesen, lauge, schattige Alleen und prächtige 
Waldpartien umfaßt. Er liegt in der Nähe der Stadt auf einer 
großen Donauiusel. In der langen, von prachtvollen alten Bäumen 
beschatteten Hauptstraße fahren an schönen Frühlings- und Sommer¬ 
tagen Tausende von Wagen, in denen geschmückte Damen und Herren, 
fröhliche Studenten, lachende Kinder, Offiziere in glänzenden Uni¬ 
formen dahinrollen. Wagen folgt auf Wagen; wie eine glänzende, 
schimmernde Linie zieht es an unserem Auge vorüber. Der eigentliche 
Tummelplatz des Volkes ist der sogenannte Wurstelprater, der seinen 
Namen von dem Hauswurst hat, der hier und da in seiner langen, 
schmalen Bude zum Jubel der Kinder sein lustiges Spiel treibt. 
Jui Wurstelprater finden wir auf großen Rasenplätzen oder zwischen 
den Bäumen verstreut unzählige Kaffee- und Bierhäuser, Kegelbahnen, 
Schaukeln, Reitschulen und Verkaufsstände. Hier verkauft ein Kroate 
Schwämme, dort ein Türke Honig, da handelt ein Italiener mit 
Limonade. Hier bietet einer „Gugelhupf" (Napfkuchen), dort einer 
Spazierstöcke, hier Blumensträußchen, da Cigarren zum Kaufe an. 
Und was es außerdem noch für Wunder zu schauen giebt! Da 
läßt sich ein Riese sehen, dort ein Zwerg, hier frißt einer Feuer, 
dort speit einer'Seidenbänder in ungeheuren Massen, hier trägt einer 
auf seiner Brust einen Ambos und läßt auf ihn so schrecklich hämmern, 
daß man den Wurstl kaum versteht, der daneben klingelt und klopft. 
Tausende strömen hier im Wurstelprater zusammen, reich und arm, 
jung und alt; kein Unterschied des Standes und Ranges gilt; alle
	        
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