Object: Vaterländisches Lesebuch für die mehrklassige evangelische Volksschule Norddeutschlands

28. Luther im „Schwarzen Bären" vor Jena. 
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arkitern war Philipp Melanchthon, ein gelehrter und frommer Mann, 
der durch seine Milde und Sanftmut den feurigen Eifer Luthers in den rechten 
Grenzen hielt. Andrä. 
28. Luther im „Schwarzen Bären" vor Jena. 
Derselbe Luther, der in göttlichen Dingen einen so heiligen Ernst zeigte, war 
im menschlichen Verkehr oft von der liebenswürdigsten Heiterkeit. Als er 
von der Wartburg heimlich nach Wittenberg ritt, nährn er unterwegs in dein 
„Schwarzen Büren" vor Jena Herberge, ohne sich jemandem zu erkennen zu 
geben. Er nannte sich nur Martinus. Dort kehrte auch der Schweizer Johann 
Keßler, der sich nach Wittenberg begab die heil. Schrift zu studieren, mit einem 
Reisegefährten ein. 
Als wir in die Stube traten (so erzählt Keßler), fanden wir einen Mann 
allein arn Tische sitzend und ein Büchlein vor ihn: liegend; der grüßte uns 
freundlich, hieß uns zu ihm an den Tisch sitzen und bot uns zu trinken. So 
bestellten wir auch ein Maß Wein, damit wir von Ehren wegen ihm wiederum 
zu trinken böten, meinten aber nicht anders, als daß er ein Reuter wäre; denn 
er saß in Hosen und Wams, ein Schwert an der Seite, mit der Rechten des 
Schwertes Knopf, mit der Linken das Heft umfangend. Bald fing er an zu 
fragen, woher wir gebürtig wären. „Von St. Gallen" antworteten wir. Sprach 
er: „Wenn Ihr dann gen Wittenberg wollt, so findet Ihr gute Landsleute, 
nämlich Dr. Hieronymus Schürpf und seinen Bruder." Da fragten wir: 
„Mein Herr, wüßtet Ihr uns nicht zu bescheiden, ob Martin Luther jetzo zu 
Wittenberg sei?" Antwortete er: „Ich habe gewissen Bericht, daß der Luther 
jetzo nicht zu Wittenberg ist; er soll aber bald dahin kommen. Philippus 
Melanchthon aber ist da: er lehret die griechische Sprache, wie auch andere die 
hebräische lehren, welche beide ich Euch in Treuen raten wollte zu studieren; 
denn die sind notwendig, die heil. Schrift zu verstehen." Sprachen wir: „Gott 
sei gelobt! denn wir wollen nicht ruhen, bis wir den Mann sehen und hören; 
denn seinetwegen haben wir die Fahrt unternommen." Danach fragte er: 
„Wo habt Ihr vormals studieret?" Antwort: „Zu Basel." Sagte er: „Wie 
steht es zu Basel? ist Erasmus noch daselbst? was thut er?" „Mein Herr", 
sprachen wir, „wir wissen nicht anders, als daß es gut steht. Was er aber 
thut, ist jedermann verborgen; denn er hält sich ganz still und heimlich." 
Diese Worte nahmen uns wunder an dem Reuter, daß er so gelehrt redete; 
zudem sprach er inzwischen etliche lateinische Worte, daß uns bedünken wollte, 
er wär' eine andere Person, als ein gemeiner Reuter. „Lieben", fragte er, 
„was hält man von dem Luther im Schweizerland? " „Mein Herr", antwortete 
ich, „es sind mancherlei Meinungen. Etliche können ihn nicht genugsam erheben 
und Gott danken, daß er seine Wahrheit durch ihn geosfenbaret hat; etliche 
aber verdammen ihn als einen schlimmen Ketzer, und sonderlich die Geistlichen." 
Sprach er: „Ich versteh', es sind die Pfaffen." Unter solchem Gespräch ward 
er uns gar heimlich, und mein Gesell hob das Buch, so vor ihm lag, auf 
und blätterte darin. Das war ein hebräischer Psalter. Da legte er es bald 
nieder, und der Reuter nahm's zu sich. Daher wurden wir noch mehr bedenk¬ 
lich, wer er doch wäre. Sprach mein Gesell: „Ich wollt' einen Finger von
	        
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