Full text: Das Vaterland (Schulj. 5 und 6)

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309. Geben ist seliger denn nehmen. 
Meine Mutter war eine fromme Frau, eine von denen, die 
nicht viel Worte machen können, aber schnell im Handeln und 
allezeit bereit zum Helfen sich zeigen. — Der Schnee lag fnfs- 
tief, und kein Sonnenstrahl vermochte die Eisblumen, der Kinder 
Lieblinge, vom Fenster zu verscheuchen. Da klopfte, derweil 
meine Mutter am Fenster safs und arbeitete, es leise an die 
Thüre, und gleich darauf stand ein achtjähriges Kind vor ihr. 
Die Haare hingen ihm wild ins Gesicht; die kleinen Hände waren 
erstarrt vor Frost; die nackten Arme hatten eine bläuliche 
Farbe; um den Leib hing ein Kleid mit hundert Rissen; die 
halberfrorenen Fässchen mit durchlöcherten Strümpfen steckten 
in Holzpantoffeln. Schwarze Augen schauten kraftlos aus dem 
bleichen Gesichtchen heraus, und über die bebenden Lippen kam 
die Bitte: „Ach, nur ein Stückchen Brot!“ — 
Von seiner Mutter hinausgeschickt zum Betteln, derweil der 
Vater den letzten Heller in Branntwein anlegte, wagte das elende 
Kind nicht heimzukehren, wenn es nicht die Taschen voll hätte, 
und wiederum wagte es sich mit seinen Lumpen nicht in die 
Häuser ehrlicher Leute hinein. Aber zu meiner Mutter hatte 
es sich doch ein Herz gefasst und stand nun vor ihr. Das Kind 
sehen und Früchte der Barmherzigkeit reifen lassen, war bei 
ihr das Werk eines Augenblicks. „Du bist gewiss das liebe 
Christkindchen selbst und sollst meinen Kindern heute die beste 
Christfreude werden Schnell setze dich dort in die warme 
Ecke, du armes Kind!“ Und nun waren in wenigen Sekunden 
die kleinen Füsse in warmen Strümpfen, die schwarzen Augen 
im Schauen, die blauen Lippen im Genuss des warmen Trankes 
versunken. — „Du bleibst nun zu Weihnachten unser Christ¬ 
kindchen,“ rief die Mutter, und als sie darauf in die Nebenstube 
trat zu den eigenen Kindern, sagte sie: „Hört, Kinder, das 
Christkindchen kommt heute wirklich zu euch! Was werdet ihr 
ihm denn schenken? Es ist sehr arm, hat keine Strümpfe noch 
Schuhe, kein Kleidchen noch Hütchen, kein Bett und kein warmes 
Stübchen.“ Da gab’s denn unter der Mutter Anleitung ein Aus¬ 
suchen und Ausleeren von Kommode und Kleiderschrank und 
ein ungeduldiges Fragen: „Wo ist nun das Christkindchen?“ 
Endlich ging die Thür auf. Da stand das arme Kind in seiner 
dürftigen Hülle. Zunächst fand eine gründliche Reinigung statt. 
Wie glücklich waren wir, dass wir dem armen Wesen Kopf und 
Füsse waschen durften! Da war kein Bangen vor Schmutz und 
Ungeziefer; denn aus den schwarzen Augen leuchtete uns Freude 
und Dank entgegen. Als dann die dunklen Haare gekämmt 
waren und unser Christkind in unsere Kleider schlüpfte, immer 
lauter über jedes neue Stück jubelnd, da war unsere Freude
	        
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