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und Murmeltiere, zu, und zerfleischen es, um die Jungen zu unterrichten,
vor ihren Augen am Rande des Nestes, indem sie es säuberlich aus dem
Balge herausschälen.
Wenn sie nicht gestört werden, behalten sie den Horst mehrere Jahre bei.
Um zu den zum Horstbau nötigen Prügeln zu gelangen, stürzen sie mit ein¬
gezogenen Flügeln blitzschnell auf einen Baum hinunter, packen mit den
Fängen einen dürren Ast, der von der Wucht ihres Sturzes krachend bricht,
und tragen das Holz dem Horstplatze zu.
Man hat oft gestritten, ob die Steinadler gelegentlich auch auf Kinder
stoßen. So selten dies auch geschehen mag, so ist doch der Vogel mutig
und stark genug dazu, und wenigstens ein verbürgtes Beispiel haben wir
aus Graubünden dafür. Dort, in einem Bergdorfe, schoß ein Steinadler
auf ein zweijähriges Kind herab und trug es weg. Durch das Geschrei
herbeigerufen, verfolgte der Vater den Räuber in die Felsen, und da die
Last des Vogels ziemlich stark war, gelangte er nach großer Mühe dazu,
ihm das übel zugerichtete Kind abzujagen, das, an den Augen zerhackt, bald
starb. Lange lauerte der Vater dem Mörder auf, der sich stets in der
Gegend umhertrieb. Endlich gelingt es ihm, ihn in einer aufgestellten
Fuchsfalle zu fangen. Ergrimmt eilt er auf ihn zu und packt ihn in der
Wut so unvorsichtig, daß ihn der Vogel mit seinem freien Fuße und
Schnabel schwer verwunden kann. Einige Nachbarn erschlugen hierauf mit
Prügeln den gefangenen Adler, der gegenwärtig ausgestopft in Winter¬
thur steht. Tschudü
141. Das Vogelnest.
In meines Nachbars Garten hatte eine Grasmücke ihr Nest, gleich
am Eingänge rechter Hand in einem Stachelbeerbusche. Der Nachbar
und seine Frau hatten ihre Freude darüber; denn sie schützten alles in
ihrem Gehege gern, und wo keine Nachtigallen sind, gilt die Grasmücke
Nummer eins. Nur hatten beide Sorge wegen der Kinder, dass die das
Nest nicht störten. Der Vater sagte: „Lass nur unsern Jungen und
die Mädchen das Nest nicht gewahr werden!“ Die Mutter aber hatte
eine andere Ansicht von der Sache. „ Unserm Jungen und den Mädchen
wollen wir das Nest lieber selber zeigen“, sprach sie, „denn sie finden
es am Ende doch, und dann ist’s mehr in Gefahr.“ Und die Mutter
hatte recht, wie alle guten Mütter. Das Nest also kannten die Kinder
von den Eiern an. Aber sie wussten auch, was ihnen die Mutter am
Neste gesagt hatte. „Wollt ihr ein Vogelnest sehen?“ — „Ja, ja!“
hatten alle gerufen. Nun traten sie um den Busch und sahen sich’s
ordentlich an. Der Vogel war geflohen und sah ängstlich aus dem
Zaune. „Kommt“, rief die Mutter nach einer Weile, „sonst werden die
Eier kalt. — Und wenn ihr wieder hingeht, so seht den Vogel nicht so
scharf an; der kleine Schelm fürchtet sich vor euren grossen Augen.“
So wurden die Eier geschont und erhalten.
Als nun die Jungen ausgekrochen waren und darinnen lagen so
nackt und klein und so hungrig die gelben Schnäbel aufsperrten, da