Full text: Prosa für die zweite und erste Klasse (Teil 3, [Schülerband])

121 
dem Kidrontal sich ausbreitenden weiten Tempelplatz. Heute liegt er verödet. 
Kaum da und dort ein Mensch, der wie ein Schatten darüberhuscht. Aber vor der 
Phantasie bevölkert er sich mit ungezählten feiernden Scharen. Und wo jetzt die 
blaue Omarmoschee träumt, da erhebt sich vor der Erinnerung der Marmortempel 
des Herodes. Davor der Vorhof mit dem Brandopferaltar, von dem der Rauch 
feierlich aufsteigt in den blauen Himmel. Und ringsum die Säulenhallen und dort 
links ragend der Hohepriesterpalast und rechts vornehm und kalt des Pilatus Rrcht- 
haus. Aber wo blieb all die steinerne Herrlichkeit, über die damals die Galiläer, 
die mit Jesus hier oben standen, aufs neue in Staunen ausbrachen, so oft sie das 
Bild auch schon gesehen? Unter den Fliesen ist sie begraben, im Kidrontal drunten 
dient sie als Ausfüllung des einst 11V2 m tieferen Tals. Hier weinte Jesus über 
die Stadt. 
Wunderbar ist der Sonnenaufgang über Jerusalem. Wenn jenseits die Berge 
in ihrem ersten Strahl aufleuchten, liegt die Stadt noch im Dämmer, ein Trauer¬ 
schleier über sie gebreitet. Dann grüßt die Sonne die Turmspitzen mit ihren 
Kreuzen, die Halbmonde auf den Kuppeln, die schlanken Helme der Minarets, daß 
sie aufflammen über dem in Violett schlummernden Steinmeer. Fängt sie aber erst 
an, über die höchsten Häuser der Stadt selbst ihren Schimmer zu gießen, dann 
rieselt es wie flüssiges Gold über die Steinwürfel mit ihren Flachkuppeln herab, 
bis endlich die weißen Marmorfliesen des Tempelplatzes in ihrem Silber sich 
baden. 
Nicht minder einzigartig ist aber der Blick vom Ölberg aus landeinwärts. 
Den Blick nach Westen verdeckt der Höhenzug hinter Jerusalem. Im Norden bildet 
der Berg Samuels, im Süden der Frankenberg die äußerste in die Augen fallende 
Warte. Um so mehr fesselt das von ihnen umrahmte Bild nach Osten zu. In 
wilden Zickzacklinien steigt das durch tiefe Schluchten zerrissene, baumlose Bergland 
wie eine brandende See, die plötzlich erstarrt ist, von der Jordanaue auf, da und 
dort ein Kloster oder eine Ruine oder ein Araberdorf auf den Höhen die große 
unruhige Einsamkeit belebend. Dann folgt der Blick dem aus dunklem Grün auf¬ 
blitzenden Silberstreifen des Jordan, bis er sich verliert in dem tiefem Stahlblau 
des Toten Meeres, von dessen Spiegel der nördliche Teil aus der Tiefe bergumwallt 
wie sehnsuchtsvoll mit großem halbfeuchten Auge herausschaut. Dahinter schließt 
das fast wirre Bild die große ruhige, nur leise bewegte Linie des 1300 m aus 
^ent Erdspalt aufsteigenden ostjordanischen Hochlandes ab, morgens dunkelblau, 
träume weckend, abends glühendrot wie eine brennende Mauer, an der man die 
ngene Seele entzündet, dann leise verglühend und erkaltend wie das Leben, 
das einst in dieser Landschaft voller Kinderträume und voller Himmelsglut sich 
abspielte. ' 
Geht man von der Höhe des Ölberges nach Osten zu noch etwa eine halbe 
Stunde, so ist man in Bethanien. Der Ort selbst hat nichts mehr von der Idylle, 
deren Bild der Name in unserer Seele weckt. Aber die Lage des Ortes ist an¬ 
mutend. In eine Mulde in dreiviertel Höhe des Ölberges traulich hineingeschmiegt, 
umgeben mit einem Kranz von Oliven- und Rebgärten, von der Morgensonne
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.