Full text: Vaterländisches Lesebuch für die mehrklassige evangelische Volksschule Norddeutschlands

1. Die Deutschen um die Zeit von Christi Geburt. 
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dem Mahle an den Wänden gehangen hatten. Fröhliche Unterhaltung wechselte 
mit Gesang; unerschöpflichen Stoff boten dem Harfner die Taten der Stammes¬ 
helden. Lange dauerte das Gelage; endlich, wenn das Mahl spät beendet 
war, begab sich der Wirt mit den Seinigen in den abgesonderten Frauenraum, 
die Mannen aber schliefen meistens in der Halle, indem die Bänke zurückge¬ 
schoben und Polster und Tierfelle auf dem Boden ausgebreitet wurden. — Anders 
aber kam es, wenn das Gefolge seinen Herrn auf kriegerischen Fahrten begleitete. 
Da zogen sie teils zu Rosse, teils zu Fuße aus; wohnte aber der Häuptling 
in der Nähe des Meeres, dann gingen sie auf den hellbemalten Barken wag¬ 
halsig auf die Wogen der Nordsee und trotzten wochenlang allen Gefahren, um 
Ruhm und Beute zu gewinnen. Fiel der Häuptling in der Schlacht, so gebot 
die Ehre den Mannen, ihn zu rächen und womöglich mit ihm zu sterben; die 
Überlebenden aber bestatteten ihn festlich und prunkvoll. Auf hohem Scheiter¬ 
haufen ward der Leichnam verbrannt mit Waffen, Leibroß und Hunden; oder 
auch man setzte den Toten auf sein Roß und schüttete um und über ihn einen 
hohen Leichenhügel und umritt mit Klagegesang die Trauerstätte. Bei see¬ 
fahrenden Völkern kam es auch wohl vor, daß der gefallene Häuptling in die 
Höhlung des Schiffes an den Mast gelegt ward; dann häufte man um ihn 
Beute und Waffen, schlug sein Banner an den Mast, hißte alle Segel aus und 
sandte den Toten mit günstigem Fahrwind in die hohe See. 
Dieselbe gemütliche Pflichttreue, dieselbe Innigkeit und Hingebung be¬ 
währten die Deutschen in der Ehe. Mann und Weib verbanden sich darin für 
das ganze Leben, um einander lieb zu sein über alles auf Erden und alles mit¬ 
einander zu teilen. So lebte das Ehepaar in unantastbarer Keuschheit; Ehebruch 
war fast unerhört; wenn aber dennoch einmal dies Verbrechen vorkam, so war 
Tod die Strafe. Auch für verlorene Unschuld gab es keine Verzeihung; nicht 
Schönheit, nicht Jugend, nicht Reichtum vermochte einem gefallenen Mädchen 
einen Mann zuzuführen. Sich nach dem Tode des Mannes wieder zu vermählen 
brachte der Frau Unehre, bei manchen Stämmen war es verboten. Nicht selten 
begleitete das Weib den Gemahl sogar in die Schlacht, um ihn zu wilderer 
Tapferkeit zu befeuern, seiner Wunden zu pflegen und den Gefallenen zu be¬ 
statten und vielleicht zu rächen. Überhaupt ehrten die Deutschen in dem weib¬ 
lichen Gemüte, das oft das Richtige sieht, ohne sich der Gründe klar bewußt 
zu werden, etwas Geheimnisvolles und Göttliches, dem sie sich gern unterwarfen; 
manche edle Jungfrau, die sich ganz dem Dienste der Gottheit widmete, galt 
für eine Seherin, durch welche sich der Wille der Himmlischen offenbare. 
Edle Sitte bewiesen sie auch in der Ausübung der Gastfreundschaft. Den 
Fremden beherbergte man, ohne ihn erst auszufragen, wer er sei und woher er 
komme. Solange er im Hause war, durfte niemand ihn beleidigen, im Not¬ 
fälle war es des Wirtes Pflicht, ihn auf Tod und Leben zu beschützen. 
Nicht minder zeigte sich in der Naturreligion unserer heidnischen Vor¬ 
fahren oftmals eine tiefe und gemütvolle Anschauung. Als höchsten Gott ver¬ 
ehrten sie den im Sturm daher fahrenden Allvater Wodan, den Spender des 
Lichtes, der ihnen zugleich als Schlachtenlenker erschien und der die Gefilde mit 
Fruchtbarkeit segne. Ihn glaubten sie umgeben von Walküren (d. h. Toten¬ 
wählerinnen), kriegerischen Jungfrauen, welche im Kampfe die dem Tode ge-
	        
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