87. Das heilige Land.
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steigt schließlich durch die unwegsamsten Klüfte und Felssteige empor. Allmählich
überwindet man vier gewaltige Stufen, welche durch nackte, oft gleich Mauern
steil emporgerichtete Felsenketten geschieden werden. Diese sind auf mancherlei
Weise zerklüftet und bieten daher zwar Durchgänge, aber dieselben sind doch
beschwerlich und werden leicht durch Räuber gesperrt.
5. Die Hauptstadt Judäas und des heiligen Landes ist Jerusalem.
Diese Stadt hat eine höchst eigentümliche Lage. Sie liegt an keiner der großen
Verkehrsstraßen, sondern hat eine wunderbar geschützte Abgeschlossenheit. Gegen
Osten hat sie die Wüsten des toten Meeres, im Norden und Westen die beschwer¬
lichen Felsenwege, gegen Süden die Wüsten jenseit Hebron. Sie steht auf
Felsengrund, ohne Umgebung von Ackerland, ohne Grastriften, ohne Fluß, ja
fast ohne Quellen und Erdkrume. Aber welche Erinnerungen knüpfen sich an
diesen feierlich stillen Platz, von welchem das Heil der Welt ausgegangen ist!
Die Stadt ist auf vier Hügeln erbaut, von denen der Zion mit der Burg
Davids und der Morijah mit dem Tempel Jehovahs die wichtigsten sind.
Nach drei Seiten hin ist Jerusalem von schroffen Tälern umschlossen, im Westen
vom Gihon-, im Süden vom Hinnom-, im Osten vom Josaphattal, nur die
Nordseite entbehrt einer solchen natürlichen Befestigung. Von der Herrlichkeit des
alten Jerusalems, von der Pracht seines Tempels, seiner Paläste und Burgen
ist keine Spur mehr vorhanden. Selbst die Hügel und Täler der Vorzeit sind
verschwunden: die Zerstörungswut hat sie geebnet, der seit Jahrtausenden sich
häufende Schutt hat sie ausgefüllt. Das schönste Haus in ganz Jerusalem ist
jetzt das Hospital der Protestanten, in welchem Diakonissen aus Kaisers¬
werth am Rhein die Krankenpflege besorgen. Durch den König Friedrich Wil¬
helm IV. ist im Verein mit der Königin von England 1842 in Jerusalem ein
protestantischer Bischof eingesetzt und zuerst eine Kirche erbauet worden. Sie hat
die schönste Lage, die gewählt werden konnte; auf Zions Höhe ragt sie über alle
Kuppeln und Türme der Stadt empor. Nicht minder strahlt jetzt im Sonnen¬
glanze von der Höhe herab die in weißem Kalkstein errichtete evangelische Er¬
löserkirche, die in Gegenwart des Kaisers Wilhelm II. und der Kaiserin sowie
der Vertreter fast aller evangelischer Kirchen Europas und Amerikas am Refor¬
mationstage des Jahres 1898 eingeweiht ward.
Auf dem Rücken des Hügels Akra erhebt sich die Kirche des heiligen
Grabes. Türkische Wächter lassen sich von den Christen ein Eintrittsgeld zahlen.
Nach dem Eintritte in das Innere steht man in einem Vorraume, aus welchem
man zur Rechten auf achtzehn Stufen zur Kapelle des Kalvarienberges aufsteigt.
Dies ist der Sage nach der Fels von Golgatha. In ihm selber, also unterhalb
der Kreuzigungsstätte, zu ebener Erde, befindet sich eine Grotte, genannt die
Kapelle des Evangelisten Johannes. Nach Abend tritt man von hier aus in
die Kirche des heiligen Grabes. Sie bildet eine 14 Meter hohe und 20 Meter
weite Rotunde. Zwei Säulengänge, der eine über dem andern, laufen längs
der runden Wände derselben. Über ihr wölbt sich eine Bleikuppel mit einer
großen Öffnung in ihrem Gipfel, durch welche das Tageslicht hereinströmt.
Senkrecht darunter, also mitten in der Rotunde, steht wie eine kleine Kapelle
das heilige Grab. Das Innere desselben besteht aus zwei in Kreidefelsen ge¬
hauenen und mit Marmor bekleideten Gemächern. Durch eine niedere Tür