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Endlich entsteht Stillstand in den Strömen. Allmählich aber kommt
wieder Leben und Regsamkeit in die trägen Gewässer. Die Schul¬
ter des Ozeans hebt sich gewaltig, und er zieht siegreich zu allen
Toren des Landes ein. Alle Kanäle desselben füllen sich, viele
schwellen bis an den Rand. Die Vorlande um die Jnselu verschwin¬
den; Fischer, Austern- und Krabbensucher ergreifen die Flucht und
retten sich vor der Flut hinter Dämme und Deiche. Ebbe und
Flut setzen die Wasserteilchen des Ozeans bis in die untersten Tiefen
in Bewegung und gewinnen dadurch eine hohe Bedeutung im Haus¬
halte der Natur.
Was verdankt aber der Mensch dem Meer? Die Küsten¬
bewohner finden gerade am Meere und an seinen Ufern vorzugs¬
weise ihre Nahrung, und zugleich ist ihnen der Verkehr am ehesten
ermöglicht. Die zahllosen Fische und Muscheln, die das Meer in
der Nähe der meisten Küsten beleben, sind eine reiche Quelle des
Unterhaltes. Tausende von Schiffen fahren allein Zum Fange des
Stockfisches aus. Der Hering, der besonders gern die Nordseeküsten
besucht, bietet Tausenden Erwerb und Hunderttausenden Nahrung;
Krebse, Austern u. a. Muscheln geben für viele Menschen eine be¬
liebte Speise ab. Der Walfisch-, Seehund- und Robbenfang ge¬
währt nicht nur vielen tausend Menschen Beschäftigung, sondern
liefert eine Fülle von Stoffen, die im gewerblichen Leben ihre
zweckmäßige Verwendung finden. Am Meere winken Häfen dem
Handel zur Einkehr; hier werden Erzeugnisse ausgetauscht; hier
lernen die Menschen einander kennen, und die Ideen vermischen sich.
Die bedeutendsten Handelsstädte entwickeln sich an den Küsten.
Welches rege Leben herrscht in Bremen, Hamburg, Lübeck, (Stettin,
Danzig, Königsberg, den bedeutendsten Häfen der Nord- und Ost¬
see! Der Strand und die Küstengewässer bieten den Bewohnerm die
bequemsten Wege und gestatten ihnen am leichtesten, Fische und
andere Waren auszutauschen. Die Anfänge des Handels liegen
deshalb hier, des Handels, der den ersten Anstoß zu einer Bewegung
gab, die sich in der Gegenwart nach allen Richtungen über Länder
und Meere erstreckt, um die zerstreuten Schätze zu sammeln und ein
Netz von Lebensadern zu schaffen, das die Welt verjüngt.
Der stete Kampf mit den Wogen macht die Küstenbevölkerung
stark und furchtlos; sie trotzen dem Tode unter taufend Gestalten.
Da der Kampf mit den Elementen sie jeden Augenblick heraus¬
fordert, uud zum Siege über die erzürnte Natur nicht der auf-
flammeude Mut der Begeisterung, sondern der der zähen Über¬
legung gehört, so sind die Küstenbewohner kaltblütig — aus¬
dauernd. Ihre Gedanken sind nüchtern und kraftvoll, aber ein¬
förmig wie das Meer, selten sanfter Natur, vielmehr oft gewaltsam
und heftig.
Groß sind die Gefahren der hohen See, noch größer die Schreck¬
nisse der Küsten. Den Schiffbrüchigen zu retten, dazu bedarf es
mehr als Wissenschaft und Kunst, nämlich des Mutes und wirk¬
licher N ä ch st e n l i e b e. „Die deutsche Gesellschaft zur Rettung
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