494
haben schon mehr Arbeitskräfte, als sie gebrauchen. Hundert¬
tausende von Arbeitern waren schon zeitweise brotlos, andere fanden
gar keine Beschäftigung. Darum „bleibe im Lande und nächre dich
redlich . Ruch Rasch, Troinnail u. a.
185. Wie Deutschland ;u Kolonien kam.
Schon in den frühesten Zeiten führte der Wandertrieb der Ger¬
manen Angehörige unseres Volkes nach den verschiedensten Län¬
dern, wo sie sich oft unter entsetzlichen Mühen eine neue Heimat
schufen und an der Entwicklung des neuen Vaterlandes fleißig
mitarbeiteten. So haben Deutsche Kurland, Livland und Preußen
zu deutschen kultivierten Ländern gemacht. Sachsen wanderten
nach Siebenbürgen; später zogen viele Deutsche nach Rußland und
gründeten dort Kolonien. Zur Zeit Karls V. nahmen die W e l s e r
in Augsburg einen Teil an der Nordküste von Südamerika in Be¬
sitz, konnten aber den Besitz der Kolonie nicht behaupten. Der
Große Kurfürst legte eine Kolonie an der Küste von Oberguinea
an, die aber später wieder verloren ging. Wenn auch Friedrich der
Große eine „Seehandelsgesellschaft" in Berlin gründete, um den
überseeischen Handel zu heben, so war er doch ein Gegner von über¬
seeischen Kolonien.
Als die anderen Länder Europas weite überseeische Gebiete
der gemäßigten Zone für die Ansiedelung in Besitz nahmen, griff
Deutschland nicht zu, weil es in seinem Innern zu viel zu tun hatte.
Der Ausbreitung des Deutschtums ist durch diese Unterlassungs¬
sünde alljährlich ein mächtiger, lebendiger Blutstrahl verloren ge-
gegangen, der von fremden Völkern aufgesogen und verarbeitet
wurde. Der völlige Mangel an eigenen Äuswandererkolonien
macht es erklärlich, daß die 9 Millionen englisch redender Menschen,
die man in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zählte, jetzt auf
120 Millionen angewachsen sind, denen nur 70 Millionen Deutsche
gegenüberstehen.
Auch das Bedürfnis nach Eröffnung neuer Erwerbsquellen für
den Haushalt unserer Nation mußte unsere Augen auf die Er¬
werbung von Kolonien lenken, vor allem mußten für unsere
Industrie neue Absatzgebiete geschaffen werden, wodurch die Ge-
werbtätigkeit des Mutterlandes gehoben, Arbeitsgelegenheit und
Gewinn erhöht wird.
Da der heimische Boden viele Erzeugnisse, die wir verbrauchen,
nicht hervorbringen kann, so wenden wir uns an die heiße Zone,
um für die Bedürfnisse Sorge zu tragen, die durch den heimischen
Ackerbau nicht befriedigt werden können. Für diesen Teil der Ver¬
brauchsartikel, die von unsern Kolonialwarenhandlungen verkauft
werden, zahlt Deutschland jetzt allein 1 Milliarde Mark an — das
Ausland. Kann man in eigenen Kolonien den entsprechenden
Plantagenbau betreiben, so können unserm Nationalwohlstand
wohl an 300 Millionen Mark Gewinn zufließen!
Erst nach der Errichtung des Deutschen Reiches traten die